Legitimationskrise durch Vertrauensverlust

Hannes Tretter, 67

Ao. Univ.-Prof., Universität Wien, Wissenschaftlicher Leiter des Forschungszentrums Menschenrechte, Mitbegründer und Co-Leiter des Ludwig Boltzmann Institutes für Menschenrechte; Umfangreiche Gutachtertätigkeit zu Grund- und menschenrechtlichen Themen sowie Rechtsvertretung und Rechtsberatung in Verfahren vor der Europäischen Kommission und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte sowie dem österreichischen Verfassungsgerichtshof.

WEISSE FLECKEN. Gespräch mit dem Wiener Menschenrechte-Forscher Hannes Tretter zur Situation in Österreich. Wird es irgendwann ein Transparenzgesetz­ geben? Ist die Informationssperre einzelner Medien menschenrechts­konform? Soll der Staat die Rechtsberatung von Asylsuchenden übernehmen? Gibt es ein Recht auf Wohnen? Sind Algorithmen die besseren Entscheider?

 Interview: Dietmar Dworschak

Am 8. Dezember ist „Tag der Menschen­rechte“. Hat Österreich da etwas zu feiern?

 

Hannes Tretter: Wenn ich mir die Situation der Gewährleistung, der Verwirklichung von Grund- und Menschenrechten in Österreich ansehe, so sind wir grundsätzlich gut aufgestellt, auch was den Rechtsstaat anbelangt. Menschenrechte sind ohne ein ausgewogenes und unabhängiges Justizystem nicht denkbar. So gesehen ist kein Anlass zur Klage.

 

Allerdings gibt es durchaus gewisse Bereiche, wo Nach- und Verbesserungen nötig sind. Ich denke hier – abgesehen von hoch proble­matischen, restriktiven Entwicklungen in der Asyl- und Flüchtlingspolitik – vor allem an den erschwerten Zugang zu Informationen, die im öffentlichen Interesse stehen. Amtsverschwiegenheit und Auskunftsrecht bewirken in ihrer Kombination, dass Österreich in Sachen Zugang zur Information am untersten Ende der euro­päischen Skala rangiert. Vor einigen Jahren, damals noch unter Kanzler Faymann und Minister Ostermayer, hat es den Versuch gegeben, ein neues Transparenzgesetz mit einem verbesserten Recht auf Information in Kraft zu setzen. Selbst dieser – von Beginn an unzulängliche – Vorschlag ist nicht weiter verfolgt worden. In einer entwickelten Demokratie ist ein umfassender Zugang zu im öffentlichen Interesse stehenden Informationen aber unabdingbar, damit die Bevölkerung besser am demokratischen Prozess teilhaben kann. Als Beispiel möchte ich die Zurückhaltung der Regierung im Zuge des Hypo-Alpe-Adria-Skandals erwähnen. Da wurden Informationen zurückgehalten, an denen ein überwiegend öffentliches Interesse bestand und nach wie vor besteht. Immerhin ist es hier um Milliarden Euro gegangen, die vom österreichischen Staatsbudget zu finanzieren waren. In diesem Bereich gibt es erheblichen Aufholbedarf! Auch in Anbetracht dessen, wenn wir unsere Rechtslage mit so manchen anderen EU-Staaten (wie z. B. Slowenien) vergleichen, die es schaffen, das Recht auf Information mit dem Recht auf Datenschutz und staatlichen Geheimhaltungspflichten in ein ausgewogeneres Verhältnis zu bringen.

 

Stichwort Flüchtlingspolitik. Das Asyl-und Fremdenrecht wird halbjährlich novelliert. Wie verhalten sich Verschärfung für jugendliche Asylwerber, Erschwerung der Einbürgerung von Asylberechtigten oder die geplante Verstaatlichung der Rechtshilfe in Asylverfahren zu den Menschenrechten?

 

Hannes Tretter: Ich halte diese Entwicklungen für nicht menschenrechtskonform. Insbesondere dann, wenn es um Jugendliche geht, die nach Österreich geflüchtet sind, mit ihren Eltern oder unbegleitet. Hier hat sich der Staat auch aus humanitärer Sicht um diese Menschen zu kümmern. Ich glaube, dass gerade junge Menschen gut erreichbar sind, und halte es für unerträglich, wenn Lehrlinge, die in einem Betrieb arbeiten, abgeschoben werden, wenn sie kein Asyl bekommen. Diese Menschen haben sich nicht versteckt, sind gemeldet und werden von den Betrieben gebraucht, befinden sich in einem Integrationsprozess. Nur weil sie für die Behörden leicht erreichbar sind, können sie abgeschoben werden. Das ist unverhältnismäßig.

Ich glaube auch, dass die Beratung von Asyl­suchenden in privater, zivilgesellschaftlicher Hand sein soll, weil eine Regierung, die eine restriktive Flüchtlingspolitik verfolgt, ein genuines Interesse daran hat, dass diese auch umgesetzt wird. Rechtsberatung muss objektiv sein und im Interesse der Betroffenen erfolgen, damit sie ihre Rechte effektiv geltend machen können. Diese Information in die Hände staatlicher Institutionen zu legen, wäre eine Störung der Ge­waltenbalance. Hier muss weiterhin die Möglichkeit bestehen, sich auch von nichtstaatlichen Institutionen beraten zu lassen. Ich meine, dass diese nichtstaatlichen Beratungseinrichtungen auch vom Staat finanziell zu unterstützen sind. Wie überhaupt die Zivilgesellschaft in Zukunft eine stärkere Rolle in der demokratischen Partizipation spielen wird. Sie spielt sie bereits, doch wird sie von staatlichen Strukturen und vom Rechtssystem noch nicht als das erfasst, was sie ist und was sie in einer entwickelten Demokratie leisten kann und auch leisten soll. Unsere demokratischen Systeme sind heute aufgrund von Vertrauensverlusten in einer Legitimitätskrise, geringschätzig wird von „den politischen Eliten“, von „der Justiz“ usw. gesprochen, die sich von der Gesellschaft entfernt haben. Wenn wir uns aber umsehen, gibt es eine Menge zivilgesellschaftlicher Organisationen, die kollektive Interessen vertreten und wahrnehmen. Diese gehören in das System hereingeholt, sollen am de­mokratischen und auch am rechtsstaatlichen Prozess partizipieren können, um den Vertrauensverlust wettzumachen.

 

Wie finden Sie es, dass im Innenministerium darüber nachgedacht worden ist, einzelne Medien vom Informationsfluss abzunabeln?

 

Hannes Tretter: Diese damals in die Öffentlichkeit gelangte Mail aus dem Innenministerium ist ein ganz klarer Verstoß gegen den Gleichheitsgedanken. Alle Medien sind gleichförmig zu in­formieren, müssen gleichförmig Zugang zu den Informationen haben, die staatlicherseits zur Verfügung gestellt werden. Hier das eine oder andere Medium auszugrenzen, weil es vielleicht kritischer berichtet als das andere, das geht einfach nicht. Die Medien sind, auch wenn sie in der Verfassung nicht genannt werden, eine gesellschaftliche Macht, die eine ganz wesentliche Aufgabe im Staat zu erfüllen haben. Mittlerweile ist es europäischer Standard und in der Rechtsprechung etwa des Europäischen Gerichtshofes anerkannt, dass die Medien die Funktion haben, den Bürgern Zugang zu Informationen zu bieten, die der einzelne aus eigener Kraft nicht bekommen kann. Wir sollen objektiv, aber auch pluralistisch informiert werden, damit wir uns ein Bild von politischen, gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Ereignissen und Entwicklungen machen können. Daher braucht es eine vielfältige und faktenbasierte Berichterstattung in sämtlichen Medienbereichen. Und dafür müssen staatliche Stellen allen Medien Informationen ohne Einschränkung oder Bevorzugung zur Verfügung stellen.

 

Thema Behinderung. Wenn man auch nur ein bisschen in die Welt hinauskommt, sieht man, wie weit hinten in diesem Zusammenhang Österreich liegt. Teilen Sie diesen Eindruck?

 

Ich kann hier nur generell sagen, dass es im Bereich der Maßnahmen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen erhebliche Defizite gibt. Ein aktuelles Beispiel, mit dem ich gerade konfrontiert wurde, ist etwa die Legasthenie. Es gibt in Österreich kaum Maßnahmen, um legasthenischen Schülern und Schülerinnen das Lernen zu erleichtern und ein adäquates Umfeld zur Ver­fügung zu stellen.

Ähnliches gilt in öffentlichen und noch mehr in im Privatbesitz stehenden Gebäuden für Menschen, die auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Hier gibt es ganz sicher noch eine Menge zu tun.

 

Im Jahr 2009 hat die Österreichische Liga für Menschenrechte einen Brief mit dem Betreff „Wohnen ist ein Menschenrecht“ bekommen. Heute, im Jahr 2018, neun Jahre danach, liegen die Mietpreise in Österreich um 40 Prozent höher.

Ist leistbares Wohnen ein Menschenrecht?

 

Hannes Tretter: Ja, das hat sehr wohl mit Menschenrechten zu tun. Es gibt ein Recht auf Wohnen, es gibt ein Recht auf Nahrung usw., also soziale Rechte, die unsere Existenz als Mensch sichern sollen.

Wohnen ist ein ganz elementares Menschenrecht, denn ohne die entsprechenden Rahmenbedingungen für ein Leben in Würde und ein Leben, das meine physische und psychische Existenz sichert, kann es auch keine adäquate Beteiligung am gesellschaftlichen Prozess geben. Wenn ich Hunger leide oder kein Dach über dem Kopf habe, werde ich nicht die Kraft finden, mich politisch zu betätigen, andere individuellen Freiheiten in dem Sinn nützen zu können, wie sie allen Menschen zustehen. Genauso umgekehrt: Wenn ich kein Recht auf Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit habe, dann werde ich meinen Anspruch auf Nahrung und Wohnung politisch nicht ausreichend formulieren können. Hier sehen wir die Interdependenz zwischen den zivilen und politischen Rechten auf der einen Seite und den sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechten auf der anderen Seite. Ich denke, dass wir – global betrachtet, aber auch in Europa – damit konfrontiert sind, dass der Kapitalismus einen enormen Aufschwung genommen hat, aber auch die Kluft zwischen Arm und Reich enorm aufgegangen ist. Reiche werden immer reicher, und Arme immer ärmer. Hinzu kommt eine größer gewordene Mittelschicht, die vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert und im Wohlstand lebt. Gleichzeitig leben allerdings immer mehr Menschen, auch in Europa und in Österreich, nahe der Armutsgrenze. Wenn ich in diesem Zusammenhang daran denke, dass große internatio­nale Konzerne die Möglichkeit haben, Finanzschlupflöcher zu nützen, weil ihnen einzelne Staaten – auch in Europa – „Sonderkonditionen“ bieten, so ist dies ein untragbarer Zustand. Hier braucht es, durchaus im sozialistischen Sinne, eine bessere Umverteilung – und vor allem Staaten sowie regionale und internationale Organisationen, die wieder beginnen, Einfluss auf die internationale Wirtschaft zu nehmen. Die Staaten sind mehrheitlich dieser Einflussnahme verlustig gegangen, weil sie oft auch die finanziellen Kon­strukte nicht durchschauen. Der unglaublichen Dynamik der wirtschaftlichen und technologischen Globalisierung hinken Staaten wie regionale und internationale Organisationen politisch und rechtlich hinterher. Sie wirken oft überfordert und scheinen nicht zu begreifen, was sich hinter diesen Entwicklungen verbirgt und wie sie sich auf Staat und Gesellschaft auswirken.

 

Denken wir beispielsweise an den Einsatz von Algorithmen: Algorithmen, die eine verbesserte Datenlage schaffen, sind ja gut und schön. Wenn wir jetzt aber beginnen, algorithmischen Prozessen Entscheidungsgewalt zu überantworten, dann stelle ich mir die Frage: Ist das nicht eine Entwicklung, die sich gegen das Menschsein mit all seiner Rationalität und Irrationalität, Empathie und Emotion und damit gegen das Recht auf individuelle Selbstbestimmung sowie letztlich gegen die Menschenwürde wendet?

 

Herr Professor Tretter, danke für das Gespräch.