„Zeit für eine Grundrechtsreform“


NEUORDNUNGSBEDARF. 101 Jahre nach Inkrafttreten der österreichischen
Bundesverfassung „ist es Zeit für einen modernen und zusammenhängenden Grundrechtskatalog“ findet der renommierte Verfassungsrechtler Heinrich Neisser. Aus den Reformversäumnissen der Vergangenheit müsse man endlich lernen, meint er. Und empfiehlt auch gleich einen Fahrplan.

Er ist sicher der an Jahren und Erfahrung reichste Experte für die österreichische Verfassung: Heinrich Neisser. Geboren 1936, promovierter Jurist und in seiner ersten Berufstätigkeit bereits Sekretär am Verfassungsgerichtshof.
Seine späteren Tätigkeiten als Politiker und Universitätslehrer hier aufzuzählen würde den Rahmen sprengen. Eine der hervorragenden Positionen war jene des „Bundesministers für Föderalismus und Verfassungsreform“
1987 bis 1989. Auch mit 86 beteiligt er sich kraftvoll und ideenreich an der politischen Diskussion im Lande. Herzensthema immer wieder: die Grundrechtsreform. Untertitel: „Österreich als Menschenrechtsstaat“.

 

„Patchwork“ und Reform-Versuche
Professor Neisser zählt auf, aus wie vielen Elementen sich der Grundrechtskatalog in der Bundesverfassung
zusammensetzt. Teile davon stammen aus dem Staatsgrundgesetz 1867, aus dem Vertrag von St. Germain 1919, aus der Europäischen Menschenrechtskonvention 1958 (1964 in den Verfassungsrang erhoben) und aus der
Grundrechte-Charta der Europäischen Union 2000.

Bereits 1964 herrschte großes Unbehagen mit dem geschilderten „Patchwork“. Eine von Bundeskanzler
Klaus eingesetzte Reformkommission beriet sich zum Thema jeden Monat einmal – sie traf sich zu insgesamt 90 Sitzungen und kam nach 20 Jahren zum „Abschluss“.

Ein „Redaktionskommitee“ befasste sich weitere 10 Jahre mit dem Ergebnis. Dann wurde eine „politische Kommission“ eingesetzt, die ein entschlussfähiges Papier vorlegen sollte.

Einen neuen, damals geradezu bombastischen Anlauf startete man im Jahr 2005: den „Österreich-Konvent“. Wie bekannt landeten dessen Ergebnisse in der Schublade.

 

„Verfassungsstaat auf der Höhe der Zeit“

Mit beträchtlichem Ehrgeiz nähert sich die aktuelle Bundesregierung dem Thema. Unter der verheißungsvollen Headline „Verfassungsstaat auf der Höhe der Zeit“ vereinbaren die Koalitionspartner unter anderem „die Steigerung der Effizienz und Transparenz von Art-15-Vereinbarungen zwischen Bund, Ländern und Gemeinden“ oder „Cooling-off-Phase ehemaliger Regierungsmitglieder für die Bestellung als Mitglied oder Ersatzmitglied des Verfassungsgerichtshofs“ oder: „Pauschalierter ideeller Schadenersatz bei Grundrechtsverletzungen“. Die letztgenannte Forderung hinterlässt Professor Neisser wie vermutlich auch viele Leser ratlos.

Grundsätzlich sieht das Koalitionsprogramm „die Wiederaufnahme der Allparteienverhandlungen zur Erarbeitung eines umfassenden österreichischen Grundrechtskatalogs und Prüfung einer allfälligen Erweiterung des Grundrechtsschutzes sowie Erarbeitung eines einheitlichen Katalogs von Staatszielbestimmungen“ vor.

Mit den „Staatszielbestimmungen“ kann Professor Neisser in diesem Zusammenhang wenig anfangen, hingegen unterstreicht er gerne die Notwendigkeit der „Verankerung der Menschenwürde“ in der Verfassung (siehe Deutschland) sowie der „Evaluierung der Kinderrechte“ und der „Weiterentwicklung des datenschutzrechtlichen
Grundrechtsschutzes“.

„Ich finde es erfreulich, dass es diese Bemühungen im Regierungsprogramm gibt, aus Erfahrung habe ich allerdings leise Zweifel an der notwendigen Umsetzung“ konstatiert Heinrich Neisser.

 

Grundrechte in Krisenzeiten

Die bereits zwei Jahre anhaltenden Beschneidungen von Grundrechten sind für Professor Neisser ein gewichtiger Anlass, über Grundrechte in Krisenzeiten nachzudenken. Beispielsweise über die Frage der „Verhältnismäßigkeit der Mittel“. Er meint: „Das ‚Urgrundrecht‘ der Versammlungsfreiheit muss genauer definiert werden“ und verweist auf den Juristen und Journalisten Heribert Prantl, der es ein „Grundrecht der Unzufriedenen und Unbequemen“ nannte. Zu fragen sei auch, wie man aktuell mit den Protesten von Wiener Geschäftsleuten umgehen solle, die sich über Geschäftseinbußen durch Demonstrationen in der Geschäftszeit beschweren. Neisser: „Wir brauchen eine Diskussion über Grundrechte und deren Grenzen.“

 

Überarbeitung der Grundrechte
Was für Professor Neisser jetzt dringend ansteht, ist die „Überarbeitung und Aktualisierung der Grundrechte“, und zwar im Sinne der „Übersichtlichkeit“, der „Modernisierung“ und der  „Einforderbarkeit“. Denn: „Zum Schutz der
Grundrechte gibt es bis heute keine Möglichkeit der Individualbeschwerde!“

Insgesamt sieht er mehrere Grundrechtsbereiche zu wenig genau bzw. wirkungsvoll in der Verfassung vertreten. Ganz vorne nennt er hier den Datenschutz, im Sinne des „Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung“. Handlungsbedarf ortet er auch bei den „sozialen Grundrechten“: „Der Staat muss Vorsorge treffen für ein ‚menschenwürdiges Dasein‘“. Hier müssten die Leistungen des Staates für den Einzelnen genauer definiert werden.

Nicht zuletzt sei Klarheit zu schaffen, wie man mit dem Thema „Umweltschutz“ künftig umgehe. Werde es, wie Ministerin Gewessler fordert, „ein Recht auf Klimaschutz“ geben?

 

3-Phasen-Programm
Um die „Grundrechte in einer neuen Form“ festzulegen, schlägt Professor Heinrich Neisser ein 3-Phasen-Programm vor.

Phase 1: Im Rahmen eines nationalen Reformprogramms soll eine erhöhte Sensibilität in der Öffentlichkeit und in der Zivilgesellschaft geschaffen werden.

Zeitdauer: Zwei Jahre.

Phase 2: Eine Enquete-Kommission des Nationalrates sammelt die Ergebnisse der bundesweiten Diskussion zusammen und legt spätestens nach einem Jahr dem Plenum des Nationalrates einen
Bericht vor.

Phase 3: Stellungnahmen wesentlicher Interessenvertretungen wie der Länderparlamente, der Kammern, des Gemeindebundes und von Berufsvertretungen. Schaffung eines „Forums der Grundrechtsreform“.

Neisser veranschlagt für diesen Prozess einen Zeitraum von „vier bis sechs Jahren“. Eine wesentliche Rolle dabei sollten die Medien und – koordinierend – die Verfassungsministerin spielen. Auch sämtliche Bereiche der politischen Bildung in Schulen und Erwachsenenbildung müssten in das Reformwerk einbezogen werden. Am Ende stehe die Ausarbeitung des Entwurfs durch Experten sowie dessen Behandlung durch den Nationalrat. Der dort erzielte Beschluss sei anschließend einer Volksabstimmung zu unterziehen.

 

Was erwartet sich Professor Neisser von dieser „nationalen Anstrengung“?

„Dieser neue Grundrechtskatalog wäre ein Ausdruck der Kraft des Rechts auf nationaler und europäischer Ebene und eine Chance der Dynamisierung des Rechts- und Wertebewusstseins in der Bevölkerung.“ Auch fände die längst fällige Diskussion über „Rechte und Pflichten“ statt, die im besten Fall zu einem neuen Verständnis der politischen Kultur führe.


HEINRICH NEISSER Univ. Prof., Dr.,

1960 Promotion zum Dr. iur., 5 Jahre Sekretär im Präsidium des VfGH; 1974–1981 Leiter einer Stabsabteilung der Vereinigung Österreichischer Industrieller;

1987–1989 Bundesminister für Föderalismus;
1994–1999 Zweiter Nationalratspräsident;
2000–2007 Jean-Monnet-Lehrstuhl am Institut für Politikwissenschaften Universität Innsbruck


Herwig Hösele, Heinrich
Neisser, Klaus Poier
101 Jahre Bundesverfassung


Broschur, 16,8 x 24 cm,
ISBN 978-3-7011-8153-7,
Leykam Verlag