Verlieren die extrem Konservativen an Zugkraft?

Aufgrund der letzten Entwicklungen wie der Dobbs-Entscheidung zum Verbot von Abtreibungen und weitreichender Diskussionen über strengere Waffengesetze verlieren die extremen Konservativen zumindest in den Swing States an Boden.

Am 4. April 2023 fanden in den USA zwei wichtige Wahlen statt: Zum einen eine Bürgermeisterwahl in Chicago und zum anderen eine Richterwahl im Bundesstaat Wisconsin. Diese beiden Wahlen fielen nicht nur zeitlich zusammen, sondern konkurrierten auch um die mediale Aufmerksamkeit mit einem historischen Ereignis: Die Anklage gegen den ehemaligen Präsidenten Trump in New York in 34 Anklagepunkten wegen Fälschung von Geschäftsunterlagen in Zusammenhang mit einem Komplott zur Beeinflussung der Präsidentschaftswahlen 2016. Jeder einzelne Anklagepunkt könnte zu einer vierjährigen Gefängnisstrafe führen, kumulativ droht daher bei einer möglichen Zusammenrechnung eine Strafe von insgesamt 136 Jahren hinter Gittern. Die Anklage sorgte auch deshalb für Aufsehen, zumal laut jüngsten Statistiken weniger als 9 % der angeklagten Fälle in New York diversionell erledigt oder abgewiesen und nur 1 % der Angeklagten freigesprochen werden, wobei es im Fall Trump sehr unwahrscheinlich ist, dass er wegen diesem spezifischen Verfahren zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird. Noch am selben Abend, nachdem er angeklagt und gegen Kaution freigelassen wurde, kehrte Trump auf sein Anwesen in Mar-a-Lago in Florida zurück, um im nationalen Fernsehen seine weitschweifende Gegendarstellung zu den Vorwürfen zu präsentieren. All das, obwohl in den Medien sehr aufgebauscht, war jedoch eigentlich ein Nebenschauplatz und lenkte, insbesondere in der internationalen Berichterstattung, von den beiden wichtigen Wahlen ab.

 

Kriminalität und Abtreibung

Analysen zeigen, dass in jüngster Zeit Kriminalität und Abtreibung die bedeutendsten Themen sind, die Wähler zum Urnengang motivieren. Waffengewalt ist in den USA die häufigste Todesursache bei Minderjährigen, weshalb dies auch als “Public Health Crisis” bezeichnet wird. „Senator Chris Murphy (CT) hat festgestellt: “In the United States, there are more guns than people. So if guns really made us safer, then the US should be the safest country in the world.” In Chicago landete der von der Lehrergewerkschaft unterstützte schwarze frühere Pädagoge und Bildungsorganisator Brandon Johnson einen Sensationserfolg gegen seinen Gegenkandidaten griechischer Abstammung Paul Vallas, welcher die Polizeigewerkschaft hinter sich hatte, und aufgrund der Stimmen der weißen und eher moderaten Wählerschichten favorisiert wurde. Johnson trat dafür ein, Gelder von der Polizei in die Bildungsreform umzuleiten. Vallas’ Botschaft der “harten Verbrechensbekämpfung” unterlag diesem progressiven Ansatz.

 

Teuerster Richterwahlkampf

In Wisconsin besiegte die liberale demokratische Kandidatin Janet Protasiewicz den konservativen republikanischen Kandidaten Daniel Kelly bei der Wahl zum Richter am dortigen Supreme Court, dem höchsten Gerichtshof im Staat, nach dem teuersten Richterwahlkampf der Geschichte, dessen Kosten auf 48 Millionen Dollar (ein nicht unerheblicher Teil kam von der demokratischen Partei außerhalb Wisconsins) geschätzt werden. In Wisconsin und den meisten anderen Bundesstaaten erfolgen bestimmte Richterbestellungen durch öffentliche Wahlen, wie zum Beispiel hier für den Wisconsin Supreme Court. Dieser Sieg war insofern von Bedeutung, als Wisconsin einer der sechs “Swing States” (neben Pennsylvania, Michigan, North Carolina, Arizona und Georgia) ist, in denen sehr wahrscheinlich die Präsidentschaftswahl im Jahr 2024 entschieden wird. Swing-States sind jene Staaten, bei denen aufgrund wechselndem Wählerverhalten nicht vorhergesehen werden kann, welche Partei die nächste Wahl gewinnen und damit wesentlich die Präsidentenwahl in den gesamten USA beeinflussen wird. Um die Sache noch spannender zu machen, hat nur zwei Tage später eine Abgeordnete im Swing-State North Carolina überraschend ihre Parteizugehörigkeit von den Demokraten zu den Republikanern gewechselt, was den Republikanern in North Carolina eine absolute Mehrheit verschafft, um etwaige Vetos des demokratischen Gouverneurs zu überstimmen.

Die Richterwahlen in Wisconsin kamen einem Referendum über eine ganze Reihe von brisanten Themen gleich, über die die neu gewählten Richter bald entscheiden werden: das Recht von Frauen auf Abtreibung, die Lockerung des strengen Wahlrechts (z.B. die Zulassung von dropbox Briefwahl), die Neueinteilung der Wahlbezirke, die Verabschiedung restriktiverer Waffengesetze und die Aufhebung von Einschränkungen der Arbeitnehmerrechte. Ein gutes Beispiel dafür, wie stark Wisconsin von den Republikanern dominiert wird, ist die Verteilung der Kongressabgeordneten. Obwohl der Staat ungefähr gleichmäßig zwischen Demokraten und Republikanern aufgeteilt ist, sind 6 der 8 Abgeordneten im Repräsentantenhaus derzeit Republikaner. In den letzten zehn Jahren wurden derartige Themen daher jeweils final von den Republikanern in Wisconsin entschieden (zuletzt durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Rechtssache Dobbs, die weltweit für Aufregung gesorgt hat, in welcher der Gerichtshof von der jahrzehntelangen Rechtsprechung zum verfassungsmäßigen Recht auf Abtreibung abging, und dadurch US-weit eine Welle schärferer Abtreibungsgesetze auslöste). Die Wahl war nicht nur für die Einwohner von Wisconsin von großer Bedeutung, sondern auch als Prognose (zusammen mit dem überraschenden Ergebnis in Chicago) für die sich möglicherweise ändernde politische Stimmung in anderen Teilen des Landes.

 

Überparteilichkeit passé

Richter sollen natürlich überparteilich sein, aber Protasiewicz, die als Richterin einer unteren Instanz für den freien Sitz in Wisconsin kandidierte, machte keinen Hehl daraus, wie sie in den brisanten Fragen stimmen würde, wenn sie gewählt werden würde und solche Fragen vor das Gericht kämen. So wie Wisconsin ein “Swing State” ist, könnte der Gewinner des Richteramts am Obersten Gerichtshof von Wisconsin die entscheidende Stimme sein. Das war auch der Grund, warum so viel Geld von außerhalb des Staates in den Wahlkampf geflossen ist. Hätte der republikanische Kandidat, Kelly, die Wahl gewonnen, hätte sich der Trend in Richtung konservativer Gesetzgebung noch weiter verstärkt. So wäre dann wahrscheinlich, um ein Extrembeispiel zu nennen, ein Gesetz aus dem Jahr 1849, wonach Abtreibungen ausschließlich bei Gefahr für das Leben der Mutter erlaubt sein würden, wieder für anwendbar erklärt worden. Durch den Wahlsieg von Janet Protasiewicz hat sich aber nun die ideologische Gewichtung des Gerichts zugunsten der Demokraten umgedreht. Die Geschichte der Politik in Wisconsin im 20. Jahrhundert ist in sich eine Geschichte der großen Schwankungen. Einerseits unterstützten die Bürger von Wisconsin einen der prominentesten progressiven Vertreter des linken politischen Flügels, Robert La Follette sowohl als Gouverneur als auch später für die Wahl in den US-Senat. Er und sein Sohn Robert La Follette Jr., die nacheinander jahrzehntelang öffentliche Ämter in Wisconsin bekleideten, waren bekannt für Reformmaßnahmen und genossen deshalb auch die Unterstützung der sozialistischen Partei. Robert La Follette kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen 1924 als Kandidat seiner eigenen Progressive Party. Er erhielt immerhin 16,6 % der Stimmen, verlor aber gegen Calvin Coolidge. Außerdem wählten die Bürger von Wisconsin 1962 ihren ehemaligen Gouverneur Gaylord Nelson in den US-Senat. Nelson war der Begründer des Earth Day und einer der ersten Visionäre dessen, was heute als Politik des Klimawandels bekannt ist. Lange bevor dieser in aller Munde war, sagte er in weiser Voraussicht: “The economy is a wholly owned subsidiary of the environment, not the other way around”. Andererseits haben dieselben Wähler in Wisconsin der Nation auch den größten US-amerikanischen Demagogen des Jahrhunderts beschert, Joe McCarthy, dessen Name als Adjektiv “McCarthyism” zum Synonym für Bürgerschikane und kommunistische Hetze in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg wurde. Als der ehemalige Präsident Trump im Dezember letzten Jahres den deklarierten Antisemiten und Nazi Sympathisanten Kanye West und den weißen Rassisten Nick Fuentes in seiner Residenz Mar-a-Lago zum Abendessen einlud und anschließend erklärte, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten “terminated” werden sollte, damit er wieder als Präsident eingesetzt werden könne, fragte die entsetzte Presse: “Is this Trump’s Joe McCarthy moment?”

 

Abwendung von rechts

Die Wahlen haben jedenfalls deutlich gemacht, dass sich ein Stimmungswechsel in den USA abzeichnet und sich die Bevölkerung von der extrem rechten Basis abwendet. Obwohl es scheint, dass die Republikaner in Wisconsin und anderen Staaten dies nach wie vor einfach nicht akzeptieren können und wollen, dürfte ihnen Schritt für Schritt und Wahl für Wahl zumindest in den Swing States der Boden unter den Füßen weggezogen werden.