Am 1. Mai ereignete sich in der New Yorker U-Bahn ein sehr erschreckender Vorfall – „tragisch“ in den Worten des Bürgermeisters von New York, „entsetzlich“ in den Worten des Gouverneurs von New York.
Ein psychisch labiler 30-jähriger schwarzer Michael-Jackson-Imitator und Straßenkünstler, wurde von einem weißen Ex-Marine-Sergeant zu Tode gewürgt. Das Opfer, Jordan Neely, litt an Depressionen, sowie an einer schizophrenen Psychose und posttraumatischer Belastungsstörung, weil er als 14-Jähriger Zeuge des Mordes an seiner Mutter geworden war. Er war in die U-Bahn eingestiegen und hatte geschrien: “I don’t have food, I don’t have a drink, I’m fed up. I don’t mind going to jail and getting life in prison. I’m ready to die.” Es stellte sich heraus, dass er zuvor bereits 42 Mal verhaftet worden war, meist wegen kleinerer Verstöße. Dreimal wurde er allerdings verhaftet, weil er andere Fahrgäste geschlagen, und in einem Fall sogar einer Frau die Nase gebrochen und ihr die Augenhöhle zertrümmert hatte.
Notwehr oder Totschlag?
Natürlich kannte der Täter, ein Ex-Marine namens Daniel Penny, Neelys kriminelle Vergangenheit nicht. Als Reaktion auf Neelys Beschimpfungen, aber ohne selbst bedroht worden zu sein, näherte er sich Neely von hinten und hielt ihn im Würgegriff. Zwei andere (schwarze) Fahrgäste halfen dabei, Neely am Boden zu halten. Als ein weiterer Fahrgast versuchte, einzugreifen, um das Würgen zu beenden, stieß Penny ihn weg. Ein weiterer Fahrgast, ein freiberuflicher Journalist, filmte den Vorfall. 2 Minuten und 52 Sekunden später war Neely tot. Sofort stellte sich die Frage: Handelte Penny in Notwehr? Nach einem öffentlichen Aufschrei wurde Penny wegen Totschlags zweiten Grades angeklagt (allerdings nicht seine Helfer), definiert als „leichtfertige Verursachung des Todes einer anderen Person“ (nicht vorsätzlich), was mit Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren bedroht ist. Es stellt sich hierbei eine große Frage, die bereits wiederholt Mittelpunkt von Diskussionen war: Warum hat fast niemand versucht Neely zu retten?
Im Zuge der öffentlichen Debatte wurde auch ein 59 Jahre alter Fall wieder diskutiert: der Tod von Kitty Genovese. Ihre Ermordung durch Messerstiche um 4 Uhr morgens am 13. März 1964 in Queens, NY, wurde zu einer traurigen Sensation. Die NY Times hatte damals berichtet, dass das junge Opfer, als es von hinten in die Enge getrieben wurde, geschrien haben soll: “Oh my God, he stabbed me! Help me!”. Dies wurde laut der Times fälschlicherweise von 38 Personen bezeugt, von denen allerdings niemand dem Opfer zu Hilfe kam oder etwas unternahm. Erst 43 Jahre später, im Jahr 2007, wurden die Fakten des Genovese-Mordes in Frage gestellt, und weitere 9 Jahre später räumte die NYTimes offiziell ein, dass ihre Berichterstattung über den Mord „fehlerhaft“ gewesen war. Die 38 vermeintlichen Zeugen gab es nicht. Einer der tatsächlich anwesenden Zeugen, ein Nachbar von Kitty kam dem Opfer zu Hilfe und schrie den Angreifer an: “Let that girl alone!”, woraufhin der Angreifer, der später festgenommen und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, davonlief.
Der „Bystander-Effekt“
2007 hatte die Geschichte bzw. deren Hintergründe jedoch bereits längst Eingang in die Psychologie-Lehrbücher gefunden, um ein soziales Phänomen zu erklären, das durch Gruppendynamik, Gruppendenken und Entdifferenzierung verursacht wird: Der „Bystander-Effekt“. Dieser bezieht sich auf eine Notsituation, in der die Menschen, die Zeugen des Notfalls sind, keine Hilfe anbieten oder leisten. Beispiele hierfür sind neben dem (falsch berichteten) Genovese-Mord, z.B. Fälle in denen eine Person, die in einem überfüllten Restaurant anfängt, am Essen zu ersticken, und niemand kommt zu Hilfe, oder eine Person, die am Straßenrand liegt aber niemand hält an, um zu helfen. Der Effekt wird in der klinischen Praxis wie folgt erklärt: „Wenn mehrere Beobachter anwesend sind, konzentriert sich der Druck, einzugreifen, nicht auf einen der Beobachter; stattdessen wird die Verantwortung für das Eingreifen unter allen Beobachtern geteilt und liegt nicht nur bei einem. Infolgedessen hilft niemand.“
Der Würgegriff, den Penny offenbar als Marinesoldat gelernt hat, soll nicht die Luftzufuhr, sondern die Blutzufuhr zum Gehirn unterbrechen. Wenn er richtig ausgeführt wird, kann ein Opfer innerhalb von 8 Sekunden das Bewusstsein verlieren. Wenn man sich das Video des Vorfalls ansieht, ist es offensichtlich, dass genau das passiert ist, denn Neely liegt bewusstlos auf dem Boden des U-Bahnwagens, während Penny ihn festhält.
Das untergräbt Pennys Verteidigung, dass er in Notwehr gehandelt habe, und zum Schutz der anderen Fahrgäste, weil Neely sehr schnell nach Pennys Eingreifen keine unmittelbare Bedrohung mehr darstellte. Daher wurde argumentiert, dass Penny nicht nur wegen Totschlags, sondern auch wegen fahrlässiger Tötung (NY Penal Law 125[2]) hätte angeklagt werden müssen. Darüber hinaus sollten auch die beiden Personen angeklagt werden, die Neely festgehalten haben, während Penny ihn würgte, obwohl dieser keine Gefahr mehr darstellte. Diskutiert wurde, dass diese beiden Personen nicht angeklagt wurden, dabei wurde natürlich wie so oft auch deren schwarze Hautfarbe – diesmal allerdings in umgekehrter Rolle – thematisiert. Es wird auch von Bedeutung sein, dass eine vierte Person versuchte, Penny dazu zu bewegen, von Neely abzulassen.
Subjektive Gefahreneinschätzung
Neben der Frage, warum sich nur vereinzelte Personen angesprochen fühlen zu helfen, stellt sich auch die Frage der subjektiven Gefährdungseinschätzung und, ob, wenn man von der Gefährlichkeit einer Person weiß, eher angreifen darf. Der Mord an Neely brachte daher auch einen ähnlichen Fall aus dem Jahr 1984 wieder ans Licht, als der weiße Bernhard Goetz, der später als Subway vigilante bezeichnet wurde, auf vier schwarze jugendliche Straßenräuber in der U-Bahn schoss. Bei diesem Vorfall stellten die vier Burschen Goetz in der U-Bahn zur Rede und verlangten 5 Dollar von ihm. Durch die Tat hat er einem der Burschen irreversible Hirnschäden und eine Lähmung von der Hüfte abwärts zugefügt. Goetz wurde wegen illegalen Besitzes einer Handfeuerwaffe verurteilt und verbrachte 8 Monate im Gefängnis. In einem Zivilprozess erstritt der schwer verletzte Bursche ein Urteil in Höhe von 42 Millionen Dollar, das jedoch nie vollstreckt werden konnte, weil Goetz über keinerlei Mittel verfügte. Im Strafprozess versuchte Goetz zu argumentieren, dass seine Handlungen subjektiv vernünftig gewesen seien, nachdem es sich bei den Burschen um Kriminelle handelte. Das Gericht entschied allerdings, dass eine Handlung auch objektiv vernünftig sein muss. So war es irrelevant, ob die Burschen eine kriminelle Vergangenheit hatten, denn das war ihm weder bekannt, als er auf sie schoss, noch ist ein Schuss mit einer Waffe eine adäquate Verteidigung bei einem versuchten Diebstahl von $5,00.
Daniel Penny wird dagegen noch die Chance haben, eine formelle Anklage zu vermeiden, indem er vor der Grand Jury argumentieren könnte, dass das Absperren von Neely’s Blutkreislauf objektiv vernünftig war. In diesem Zusammenhang wird er vermutlich dessen kriminelle Vergangenheit zur Sprache bringen. Wenn das Gericht den Präzedenzfällen wie Goetz folgt, wird dieser Strategie allerdings der Erfolg versagt bleiben und werden diesbezügliche Beweise, einschließlich der Tatsache, dass Neely einmal einen Fahrgast schwer verletzt hatte und unzählige Male verhaftet worden war, nicht zugelassen werden. Andererseits hat das Oberste Gericht von New York einen neuen Vorsitzenden Richter (den ersten schwarzen Vorsitzenden Richter des Obersten Gerichts), Rowan Wilson, der kürzlich im Fall People v. Guerra (2023) eine von der bisherigen Rechtsprechung abweichende Meinung vertrat. In diesem Fall ging es um eine Auseinandersetzung zwischen zwei Personen, bei der das Opfer nach Beschimpfung des Täters von diesem erstochen wurde. Die Frage war, wer der Angreifer war. Wilson argumentierte, dass die Geschworenen sich eine umfassende Meinung bilden sollten und hat deswegen Beweise zu der Vergangenheit des Opfers, und demnach auch, dass dieses bereits wegen vier Gewaltdelikten verurteilt wurde, zugelassen: “As a juror would you not feel better able to determine who was the initial aggressor if you knew the victim’s history of violence?”
Crowdfunding zur Verteidigungsfinanzierung
In der Zwischenzeit hat Penny mehr als 2 Millionen Dollar durch Crowdfunding erhalten, um die Kosten seiner Rechtsverteidigung zu decken, darunter auch 10.000 Dollar von Vivek Ramaswamy, einem Republikaner, der 2024 für das Präsidentenamt kandidieren will. Einige Jahre nachdem er verurteilt wurde, kandidierte Goetz übrigens für das Amt des Bürgermeisters von New York, und versuchte seinen durch den Fall erlangten Bekanntheitsgrad zu nutzen. Fazit: Nichts ist zu schrecklich oder geschmacklos, um es im Nachhinein für politische Zwecke zu instrumentalisieren.