„Die Empfindlichkeit für den Rechtsstaat ist in der Politik verloren gegangen“

KLARE WORTE. Als ÖVP-Politiker hat er verschiedene Führungspositionen bekleidet, als Universitätsprofessor forschte er unter anderem über Rechtsstaatlichkeit in der Europäischen Union. Nicht selten erhebt er die kritische Stimme gegen seine Partei. Im Gespräch mit ANWALT AKTUELL konstatiert er ein generelles Desinteresse der Regierung und des Parlaments am österreichischen Rechtsstaat.

Interview: Dietmar Dworschak

ANWALT AKTUELL: Herr Professor Neisser, wie beurteilen Sie als ehemaliger Politiker und als Verfassungsrechtler die Tatsache, dass die österreichische Regierung seit Monaten die vakanten Spitzen des Bundesverwaltungsgerichts wie auch der Bundeswettbewerbsbehörde nicht besetzt?

 

Heinrich Neisser: Das ist ein trauriges Symbol für Defizite im Rechtsstaat. Es ist ein Leerlauf, für den es keine Gründe gibt. Solche Besetzungen sind traditionell Kompromissentscheidungen auf politischer Ebene gewesen. Wieso man das jetzt nicht macht ist mir völlig unerklärlich. Es liegt daran, dass die Politiker, die heute in der Regierung sitzen, kein Empfinden dafür haben, was eigentlich Regieren bedeutet. Grund dafür ist sicher auch die Schwäche der Personen.

 

ANWALT AKTUELL: Muss man nicht befürchten, dass hier signalisiert wird: der Rechtsstaat ist uns nicht so wichtig?

 

Heinrich Neisser: Sicher ist es so ein Signal. Ich habe mich ja intensiv auf europäischer Ebene mit der Rechtsstaatssituation in Polen und Ungarn beschäftigt. Wir sind in Österreich zwar, negativ gesprochen, noch nicht so weit. Es geht grundsätzlich um den institutionellen Bereich und um das Klima. Der Rechtsstaat lebt ja davon, dass es eine Empfindlichkeit der Politiker für den Rechtsstaat gibt. Ebenso eine Empfindlichkeit des Volkes und der Öffentlichkeit. Diese Empfindlichkeit für den Rechtsstaat ist in der Politik offensichtlich verloren gegangen. Spätestens bei den nächsten Wahlen wird man sehen, wie es das Volk mit dieser Empfindlichkeit hält. Ich fürchte jedoch, dass der kommende Wahlkampf den Rechtsstaat nicht thematisieren wird.

 

ANWALT AKTUELL: Uneinigkeit der Regierungsparteien gibt es auch bei dem Thema des Weisungsrechts des Justizministeriums. Die Grünen wollen einen Dreiersenat, die ÖVP will eine Person – was ist die gescheitere Lösung?

 

Heinrich Neisser: Von einer gescheiteren Lösung zu sprechen ist problematisch. Ich war immer ein überzeugter Parlamentarier. Die neue Konstellation sollte meiner Meinung nach jedenfalls eine Letztverantwortung des Parlaments vorsehen. Dadurch soll die Mitsprache des Volkes bei der Rechtsstaatlichkeit gesichert werden.

 

ANWALT AKTUELL: Ein Thema, das in letzter Zeit immer öfter in der Öffentlichkeit vorkommt heißt „Beschuldigtenrechte“. Finden Sie, dass Ermittlungsbehörden zu viel dürfen, beispielsweise bei Handy-Durchsuchungen?

 

Heinrich Neisser: Ich tue mir etwas schwer in der Beurteilung der technischen Vorgänge, um die man hier streitet. Verfassungsrechtlich scheint mir allerdings die Bemerkung wichtig, dass wir in Österreich ein Defizit in Sachen individueller Beschwerde haben. Ein ausgeprägter Rechtsstaat müsste gerade in diesen turbulenten Zeiten der individuellen Beschwerde einen Vorrang einräumen. Die bisherigen Ansätze, etwa die Verbandsklagen, sind mir zu wenig. Gerade im Zusammenhang mit den Menschenrechten muss festgestellt werden, dass es ein individuelles Beschwerderecht braucht. Zu diesem Thema fehlt im Grunde eine breite Diskussion. Diese Frage ist nicht nur an die Regierung zu richten, sondern auch an das Parlament. Ich kann mich nicht erinnern, seit Jahrzehnten ein Parlament wahrgenommen zu haben, das dem Rechtsstaat gegenüber derart gleichgültig ist. Das liegt natürlich an den Personen. Justizminister Broda war eine kritisierte und bekämpfte Persönlichkeit. Aber: da hat eine Diskussion stattgefunden! Heute findet eine solche, wenn überhaupt, mit einer teilweise seltsamen Lieblichkeit statt. Ich habe das Gefühl: das interessiert die Leute nicht mehr. Eines der größten Probleme der Gegenwart ist für mich das Defizit an öffentlichem Interesse. Das liegt natürlich an der Regierung, die nicht in der Lage ist, wesentliche prioritäre Anliegen in den Mittelpunkt zu stellen, darüber zu diskutieren und zu entscheiden. Vor Jahren hat die Zivilgesellschaft in Ansätzen versucht, hier Signale zu setzen. Mittlerweile geht hier auch nichts weiter, mit Ausnahme von Organisationen, die auf dem Sektor der Menschenrechte tätig sind.

 

ANWALT AKTUELL: Eine Frage zur konkreten Politik in Österreich. Wie beurteilen Sie als Jurist und Verfassungsrechtler die Vereinbarung der schwarz-blauen niederösterreichischen Landesregierung, 30 Millionen Euro für sogenannte „Corona-Opfer“ und für die Rückzahlung von Corona-Strafen zur Verfügung zu stellen?

 

Heinrich Neisser: Ich habe Zweifel, dass dies verfassungsrechtlich halten wird. Es ist jedenfalls kein gutes Zeichen. Wenn der Staat etwas verhängt, weil es strafrechtlich unzulässig ist, um es später wieder aufzuheben…? Das ist ja doch etwas ganz anderes als die Wiedergutmachungsgesetzgebung wegen nationalsozialistischer Übergriffe. Ich persönlich halte es für sehr problematisch und glaube nicht, dass es vom Verfassungsgericht akzeptiert werden wird.

 

ANWALT AKTUELL: Sie gehören zum Urgestein der schwarz-roten Politik in Österreich. Wie finden Sie’s, dass wir mittlerweile drei schwarz-blaue Landesregierungen haben und viele politische Beobachter für den nächsten Herbst eine schwarzblaue Bundesregierung ankündigen?

 

Heinrich Neisser: Ich habe nie eine besondere Sympathie für die FPÖ entwickelt. Ich habe in meiner Jugend erlebt, wie der VdU und die FPÖ entstanden sind, wie es Chancen gegeben hätte, aus der national-liberalen Bewegung eine liberale zu machen…Das hat dann nicht stattgefunden. Ich habe es anfangs Jörg Haider zugetraut, der sich aber zum Stammvater des primitiven Populismus entwickelt hat. Mit den Positionen und Aussagen des derzeitigen Parteivorsitzenden kann ich natürlich überhaupt nichts anfangen. In der Rückschau muss man jedenfalls feststellen, dass sich die FPÖ überall dort, wo sie in die Regierung gekommen ist, ein schlechtes Zeugnis verdient hat. Für Niederösterreich sehe ich da keine besseren Aussichten, bei Salzburg weiß ich’s noch nicht. Insgesamt ist die FPÖ eben eine autoritär geführte Partei. Allerdings muss ich sagen, dass in einer Mehrparteiendemokratie zu akzeptieren ist, wenn sich eine Partei eine andere zur Regierungspartnerschaft auswählt.

 

Herr Professor Neisser, danke für das Gespräch.