Recht auf Nichterreichbarkeit?

ABSCHALTEN? Verlangt die moderne Arbeitswelt statt der 4-Tage-Woche den 7/24-Arbeitnehmer? Ist die Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit bereits stillschweigende Wirklichkeit? Wollen Arbeitnehmer mehr Flexibilität statt enger Arbeitszeitregeln? Arbeitsrecht-Professorin Susanne Auer-Mayer spricht über Erwartungen von Dienstgebern und Dienstnehmern, über Regelungsversuche auf europäischer Ebene und über „internationale“ Dienstverträge.

 

Interview: Dietmar Dworschak

ANWALT AKTUELL: Frau Professorin Auer-Mayer, wir treffen uns gerade kurz vor Mittag am Freitag, zu einer Stunde, da die meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bereits am Weg ins Wochenende sind. Wie lange sind Sie für Ihre Studentinnen und Studenten noch erreichbar, eventuell auch am Samstag und am Sonntag?

 

Susanne Auer-Mayer: (lacht) Das ist jetzt die Frage, was ich hier als arbeitsrechtskonforme Antwort gebe… Die ehrliche Antwort ist: Ich bin tatsächlich auch am Wochenende per E-Mail ganz gut erreichbar, wenn etwas dringend ist. Offiziell natürlich nur zu den regulären Wochenarbeitszeiten. Zugegeben habe ich meinen Mail-Account am Handy und damit auch dauernd dabei.

 

ANWALT AKTUELL: Ist das streng arbeitsrechtlich betrachtet in Ordnung?

 

Susanne Auer-Mayer: Streng arbeitsrechtlich gibt es zwingend vorgeschriebene Ruhezeiten, die einzuhalten sind. Diese 11 bzw. zumindest 8 Stunden täglich halte ich im Regelfall auch ein. Daneben gibt es auch eine verpflichtende Wochenendruhe von durchgängig 36 Stunden, insoweit ist es arbeitsrechtlich nicht ganz unproblematisch, wenn ich am Sonntag einige E-Mails beantworte.

 

ANWALT AKTUELL: Wie sieht die Zukunft der Kommunikation zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer aus? Vier-Tage-Woche zu je acht Stunden und dann lange Sendepause?

 

Susanne Auer-Mayer: Dieses Modell kann ich mir, ehrlich gesagt, nur schwer vorstellen. Es hängt sicher auch von der jeweiligen Branche ab. Aber man wird sich schon überlegen müssen, wie man die digitale Kommunikation künftig handhabt. Es wollen ja zum Teil auch die Arbeitnehmer selbst z.B. lieber am Sonntag, wenn das Wetter schlecht ist, ihre E-Mails abarbeiten und dann dafür am Donnerstag bei Schönwetter spazieren gehen… Das derzeitige rechtliche System lässt das nicht oder nur sehr eingeschränkt zu. Auf der anderen Seite ist es aber natürlich auch mit Blick auf den Gesundheitsschutz nicht gut, wenn man ständig in diesem Dauererwartungszustand ist, ob man ein E-Mail oder einen Anruf bekommt und daher nie wirklich abschalten kann.

 

ANWALT AKTUELL: Sie beschäftigen sich aktuell mit der Frage des „Rechts auf Nichterreichbarkeit“. Gibt es ein solches bereits oder soll man es schaffen – und in welcher Form?

 

Susanne Auer-Mayer: Rein juristisch gibt es dieses Recht bereits. Während der vorhin erwähnten Ruhezeiten darf ich (soweit nicht Rufbereitschaft vereinbart ist) auch nicht dienstlich kontaktiert werden oder dienstliche Aufträge ausführen. Das Recht auf Nichterreichbarkeit existiert also, es geht mehr um seine praktische Umsetzung. Das Europäische Parlament hat einen Vorschlag für ein „Grundrecht auf Nichterreichbarkeit“ vorgelegt. Das klingt natürlich sehr plakativ, im Kern geht es aber, wie gesagt, weniger um die Schaffung eines Rechts als darum, Bewusstseinsbildung zu betreiben oder vielleicht organisatorische Maßnahmen zu forcieren, die die ständige Erreichbarkeit eingrenzen sollen. In Frankreich oder in Italien besteht etwa bereits die Möglichkeit, durch Betriebsvereinbarungen Regelungen vorzusehen, um die Nichterreichbarkeit bzw. die ungehinderte Ruhe sicher zu stellen. Diskutiert wird immer wieder auch die Möglichkeit des verpflichtenden Abschaltens der Server. Hier muss man allerdings auch sehen, dass durch eine solche Maßnahme naturgemäß auch die Flexibilität der Arbeitenden eingeschränkt wird.

 

ANWALT AKTUELL: Nichterreichbarkeit hat, nehme ich an, speziell für Menschen Bedeutung, die im Homeoffice arbeiten. Wie kann man organisieren, dass diese Leute nicht ununterbrochen mit Fragen und Aufträgen bombardiert werden? Ist dafür ein rechtlicher Rahmen überhaupt möglich? 

 

Susanne Auer-Mayer: Ein rechtlicher Rahmen ist sicher möglich. Auch bei Arbeit im Homeoffice besteht ein Recht auf Ruhezeiten. Es gibt zudem auch hier die Verpflichtung des Arbeitgebers zu kontrollieren, ob die Arbeitszeitgrenzen eingehalten werden. Es geht erneut eher um die praktische Umsetzung und damit die Schwierigkeit einer solchen Kontrolle. Hinsichtlich der Arbeitszeitaufzeichnungen für Arbeitende im Homeoffice bestehen überdies gewisse (vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH im Übrigen durchaus problematische) Erleichterungen: Es muss nur das Stundenausmaß, nicht aber die Lage der Arbeitszeit aufgezeichnet werden. Liegen den Arbeitgebern aber nur die Stundensalden vor, ohne dass sie wissen, wann die Arbeit konkret geleistet wurde, können sie z.B. gar nicht kontrollieren, ob hier elf Stunden Ruhezeit eingehalten worden sind. Aus Sicht der Arbeitgeber besteht darüber hinaus auch deshalb ein Spannungsverhältnis, weil auch der Persönlichkeitsschutz der Arbeitnehmer zu beachten ist. Der Arbeitgeber kann mich in meinem privaten Umfeld daher etwa nicht zwingen, dass ich ständig meine Webcam eingeschaltet habe, um zu kontrollieren, ob ich auch wirklich nicht arbeite. Das würde zu sehr in mein Privatleben eingreifen.

 

ANWALT AKTUELL: Sie sprechen gerade das Thema der Kontrolle an. Inzwischen gibt es eine Reihe von Programmen, mit deren Hilfe man den Homeoffice-Worker praktisch im Sekundentakt kontrollieren kann. Ist da „Nichterreichbarkeit“ nicht eine theoretische Diskussion bzw. ein schon abgehaktes Thema?

 

Susanne Auer-Mayer: Ja, diese Programme gibt es natürlich, die alle paar Sekunden Screenshots machen, genau die Tastenanschläge aufzeichnen etc., wobei man dazu sagen muss, dass dies arbeits- und datenschutzrechtlich äußerst problematisch ist. Eine Dauerüberwachung an sich ist nicht zulässig. Selbst wenn derartige Kontrollen in abgeschwächter Form stattfinden, brauchen Arbeitgeber dafür im Regelfall die Zustimmung des Betriebsrates in Form einer Betriebsvereinbarung. An sich können digitale Kontrollen auch wieder dazu dienen, zu überprüfen, ob die Arbeitszeiten eingehalten werden, also nicht rund um die Uhr gearbeitet wird. So gibt es etwa Programme, die automatisiert ein E-Mail an den Vorgesetzten schreiben, wenn Höchstarbeitszeiten überschritten werden bzw. wenn Arbeitnehmer kurz davor stehen.

 

ANWALT AKTUELL: Wie sehen Sie das Thema „Nichterreichbarkeit“ im Zusammenhang mit den sogenannten „flachen Hierarchien“, die speziell bei jungen, flippigen Unternehmen üblich sind? Man macht ein Start-up, ist rundherum per Du und tauscht am Samstag um Mitternacht spontan wichtige Unternehmensdetails aus. Ist das die schöne neue Arbeitswelt mit unlimitierter Erreichbarkeit?

 

Susanne Auer-Mayer: Aus meiner Sicht sollte man sich auch das sowohl rechtlich als auch faktisch genauer anschauen. Wie Sie sagen geht der Trend zur unbegrenzten Flexibilität. Jeder arbeitet, wann und wo er will. Natürlich hat man dadurch den Vorteil, in einem sehr hohen Maße flexibel arbeiten zu können. Es gibt allerdings auch arbeitsmedizinische und psychologische Studien, aus denen hervorgeht, dass diese völlige Flexibilität etwa im Hinblick auf das Entstehen von Burnout nicht gut ist, weil man überhaupt keine geplante Ruhezeit und Freizeit und letztlich auch keine Sicherheit hat. Wenn ich alle paar Tage in der Ruhezeit ein E-Mail schreibe, wird das vermutlich wenig ausmachen, aber wenn ich ständig für potenzielle Aufträge erreichbar sein muss, entsteht ein System von „Arbeit auf Abruf“. Gerade heute habe ich gelesen, dass etwa die Plattformen für Essenslieferungen stark in der Kritik stehen. Oberflächlich gesehen kann ich mir’s ja aussuchen, ob ich einen Auftrag annehme, und es scheint alles wunderbar. Wenn ich zum guten Teil davon leben muss, bin ich aber darauf angewiesen, dass ich diese Anfragen bekomme. Die Grundregel: „Jetzt gibt es gerade Arbeit, und jetzt wird gearbeitet“ ist daher mit Blick auf die Absicherung durchaus problematisch. So werden Ruhezeiträume hier typicherweise nicht bezahlt, und vielfach sind die Arbeitenden auch sonst nicht voll abgesichert. Das ist schon weit entfernt vom klassischen Arbeitsverhältnis, das man bisher kannte.

 

ANWALT AKTUELL: Sie kennen sicher viele neue Modelle der Zusammenarbeit in der digitalen Welt. Gibt es da irgendwo auch Regeln für das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer?

 

Susanne Auer-Mayer: In der „digitalen Arbeitswelt“ ist dieses Modell „on demand“ mittlerweile schon relativ stark ausgeprägt. Wir haben auch bei Covid gesehen, wie viele Arbeiten aus dem Homeoffice, remote über das Internet erledigt werden können. Man hat davor gedacht, dass dies alles nicht funktioniert und hat dann gesehen, dass es in vielen Branchen überraschend gut geklappt hat. Aus diesen Erfahrungen heraus sollte man aus meiner Sicht, wie schon erwähnt, grundsätzlich über das Thema Ruhezeiten nachdenken, etwa auch darüber, ob der Sonntag wirklich strikt arbeitsfrei sein muss. Darüber hinaus sollte man punktuell auch noch explizitere Regelungen für das Homeoffice treffen. Auch stellt sich die Frage, ob der geltende Arbeitnehmerbegriff für die neuen Modelle der Zusammenarbeit wirklich noch zeitgemäß ist.

 

ANWALT AKTUELL: Abseits der vertraglich geregelten Arbeitsverhältnisse gibt es am sogenannten freien Markt immer mehr Modelle weltweit ausgeschriebener Jobs, die quasi im Auktionsformat vergeben werden. Wie beurteilen Sie diese neuen Formen der Zusammenarbeit von Auftraggeber und Auftragnehmer?

 

Susanne Auer-Mayer: Diese bereits angesprochene Plattformwirtschaft boomt, und zwar nicht nur für Tätigkeiten, die man online ausführt. Da werden Nachhilfe, Reinigungsdienste und viele andere Aufträge ausgeschrieben und wer am schnellsten reagiert, bekommt den Zuschlag. Problematisch daran ist zunächst schon die Frage: Sind das überhaupt Arbeitsverhältnisse, die dem Schutz des Arbeitsrechts unterliegen? Das ist sehr stark umstritten und hängt von der konkreten Gestaltung ab. Man bemerkt dabei jedenfalls eine gewisse „Flucht“ aus dem Arbeitsrecht. Es wird vieles mit freien Dienstverträgen abgewickelt oder mit Kettenwerkverträgen. Diese Personen haben daher (zumindest nach der äußeren Erscheinungsform des Vertrages) keinen arbeitsrechtlichen Schutz. Wenn sie länger erkranken haben sie „Pech gehabt“. Es gibt auch keinen bezahlten Urlaub. Das ist wiederum nicht ganz so problematisch, wenn dies Menschen in einem geringen Ausmaß „nebenbei“ machen. Immer mehr Menschen müssen aber von den Einkünften aus derartigen Modellen leben. Darüber hinaus entsteht zunehmend auch Druck auf diejenigen, die noch in einem „echten“ Arbeitsverhältnis sind. Denn wenn zehn andere bereit sind, die Arbeitsleistung viel flexibler und günstiger zu erbringen, stellt sich aus Sicht der Auftraggeber natürlich die Frage, warum sie überhaupt Arbeitsverträge abschließen sollten. Auch die EU hat dieses Problem schon erkannt und es gibt dazu den Entwurf einer Plattformarbeitsrichtlinie, die das Ziel hat, die Arbeit in der Plattformwirtschaft zu regulieren und zu verbessern. Diese Richtlinie sieht unter anderem eine Vermutung des Vorhandenseins eines Arbeitsverhältnisses vor. Das wäre insofern eine bedeutende Verbesserung, weil sich damit die Beweislast zulasten der Plattformen ändert.

 

ANWALT AKTUELL: Wo wird so etwas dann gegebenenfalls judiziert? Ist das nationales Recht?

 

Susanne Auer-Mayer: Die EU kann rechtliche Regelungen im Rahmen ihrer Kompetenzen treffen. Die Mitgliedstaaten müssen entsprechende Richtlinien dann in ihr nationales Recht umsetzen. Schlagend wird es also in den einzelnen Staaten, wobei grundsätzlich das Arbeitsrecht jenes Staates anwendbar ist, in dem der gewöhnliche Arbeitsort liegt.

 

ANWALT AKTUELL: Wenn der freie Dienstvertrag mit einer Firma in Sri Lanka abgeschlossen wird schaut der österreichische Arbeitnehmer im Streitfall wahrscheinlich nicht so gut aus?

 

Susanne Auer-Mayer: Das ist das Problem. Bisher haben wir keine spezifischen Sonderregelungen für diese Fälle. Es geht daher primär darum, wo die Arbeitsleistung erbracht wird. Es kann demnach sein, dass das Recht eines Drittstaates zur Anwendung kommt, oder eben auch nicht.

 

Frau Professorin Auer-Mayer, danke für das Gespräch.