ANSTAND? Österreich macht momentan nicht gerade das Bild einer funktionierenden Republik, weder politisch, noch wirtschaftlich oder gesellschaftlich. Die Inflation liegt im europäischen Spitzenfeld, die Energiepreise sinken, wenn überhaupt, nur zögernd. Der Lebensmittelhandel räumt ab, jedenfalls bei den Gewinnen. Und ein Milliardär verkauft seine Möbelhäuser mit sattem Gewinn. 1.900 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stehen auf der Straße. Unvermeidlich das alles? Es ist Zeit, an eine alte Tugend zu erinnern.
Rechtsstaat: Es war einmal eine Republik, in der sich die führenden Politiker an die Regeln gehalten haben. Da wurden beispielsweise wichtige Posten zeitgerecht ausgeschrieben, Kandidatinnen und Kandidaten von Kommissionen fristgerecht gereiht und die Positionen in der vorgeschriebenen Zeit besetzt. 2023 ist das anders. Die ÖVP beharrt darauf, dass ein ihr nahestehender Jurist Leiter der Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) werden muss. Solange dies nicht geschieht, blockiert sie die Neubesetzung der Spitze des Bundesverwaltungsgerichts. Lustigerweise ist exakt der nämliche ÖVP-Jurist interimistischer Leiter des BVwG. Schachspieler nennen dies eine Patt-Situation. Der Bundespräsident fragt, warum dieses Spielchen kein Ende findet…
Was wäre, wenn die ÖVP endlich ihren absurden Widerstand aufgäbe und der Kandidat seine BWB-Bewerbung zurückzöge? Es wäre: Anstand.
Landespolitik: Es waren einmal Bundesländer, in denen man Politikerinnen und Politikern glauben konnte, dass das, was sie vor der Wahl sagten, auch danach gelten würde. In Salzburg beförderte der Landeshauptmann eine Partei, vor der er zuvor immer gewarnt hatte, nach der Wahl neben sich auf die Regierungsbank. Inklusive eines Neu-Landesrates, dem Internet-Betrüger vor zwei Jahren 600.000 Euro abgeknöpft hatten.
Was wäre, wenn sich der Landeshauptmann für eine andere Koalition und der abgezockte Gemeindepolitiker gegen das Amt entschieden hätten? Es wäre: Anstand.
Energiekonzerne: Es war einmal ein Land, in dem die Energieversorger im Dienste der Bevölkerung standen. Damals befanden sich diese Unternehmen meist im Eigentum des Staates oder der Bundesländer. Die Preise für Wasser, Gas und Strom wurden in der Regel derart gestaltet, dass diese Kosten leicht im monatlichen Haushaltsbudget der Österreicherinnen und Österreicher unterzubringen waren. Dann aber wehte der Schüssel-Grasser-Wind der Privatisierung scharf durchs Land. Des Teufels war forthin der sogenannte „Staatsbetrieb“. Man hob die Tassen auf die Aktiengesellschaften und installierte Vorstände, die künftighin das „Wohl des Aktionärs“ im Auge haben sollten. Nachdem Kriegsherr Putin insbesondere das Gas, jedoch auch andere Energieformen saftig teurer gemacht hatte, zogen die Energie-Vorstände kräftig nach und ließen die Preise förmlich explodieren. Die Energie-Monopolisten machten gigantische Gewinne, die Monatsbudgets der privaten Haushalte brachen zusammen.
Was wäre, wenn die Energiekonzerne nicht einfach an der Preisschraube gedreht und ihre voraussichtlichen Gewinne zum Abfedern der Konsumentenpreise verwendet hätten? Es wäre: Anstand.
Lebensmittelhandel: Es war einmal ein Einkaufskorb. Als Putin die Ukraine überfiel, begannen die Märchenabteilungen der Lebensmittelkonzerne damit, Geschichten über zerstörte Lieferketten und grausam gestiegene Dieselpreise zu erfinden. Mit einem Mal kosteten die bekanntlich aus Moskau stammenden Ananas oder die aus dem Ural herbeigeschafften Kiwis ein Vielfaches. Die Butter aus Wladiwostok machte eigenwillige Preissprünge, und auch für den Veltliner des Jahrganges 2019 aus Novosibirsk wurden plötzlich 30 Prozent mehr verlangt. In Deutschland stiegen die Lebensmittelpreise um rund 16 Prozent, in Österreich legten die Konzerne gleich weitere 50 Prozent drauf. Armer Einkaufskorb! Und die Politik sang dazu: Oje, die Inflation!
Was wäre, wenn die Lebensmittelkonzerne auf diesen unglaubwürdigen Tam-Tam verzichtet und auf die inzwischen stattgefundene Beruhigung gesetzt hätten? Es wäre: Anstand.
Vermieter: Es war einmal ein Hausherr. Dieser freute sich, dass seine Mieten in den letzten paar Jahren kräftigst gestiegen waren. Den echten Jackpot jedoch bescherte ihm der russische Kriegsherr. Denn plötzlich verrechnete ihm der zur Wohnung eilende Elektriker 30 Prozent mehr. So nahm der Hausherr also den Rechenstift und addierte all das, was für ihn teurer geworden war. Nachdem er sich mit einem Schnäpschen beruhigt hatte, schickte er seinen Mietern die „aktuelle Vorschreibung“: „Angesichts unseres langjährigen guten Verhältnisses verzichte ich auf die Mieterhöhung entsprechend dem Verbraucherpreisindex und ersuche lediglich, ab nächsten Monat die um 15% erhöhte Nettomiete zu überweisen. MfG“
Was wäre, wenn sich der Hausherr über den treuen langjährigen Mieter gefreut und die Miete überhaupt nicht erhöht hätte? Es wäre: Anstand.
À la carte: Es war einmal ein Wirt, der tagaus tagein für seine Gäste Kartoffeln schälte, Schnitzel klopfte und die besten Weine einkaufte. In der Corona-Krise litt er sehr unter der leeren Wirtsstube und dem sehr kleinen Umsatz, den er mit Schwarzverkauf über die Gasse machte. Da seine Vertreter in der Wirtschaftskammer jedoch ausreichend Krawall schlugen, flossen dem Wirt reichlich Dukaten aus der Staatskasse zu. Er strahlte, kaufte sich einen Tesla, renovierte die Gaststube und schwor, sich ab nun nicht mehr tagaus tagein mit den Kartoffeln und den Schnitzeln abzumühen. Er halbierte seine frühere Sechs-Tage-Woche und ließ sich auf seinen seidenweichen Tesla-Fahrten bei der Neugestaltung des rechten Speisekarten-Randes inspirieren. Freundlich wie ehedem umarmte er seine Gäste, die dankbar waren, dass sie an einem der drei geöffneten Tage ein Plätzchen bei ihm bekamen. Kaum einer murrte über das 30-Prozent-Wachstum am rechten Rand der Speisekarte.
Was wäre, wenn der Wirt sich still über die sagenhaften Corona-Förderungen gefreut und dem Schnitzel ein Dasein unter 30 Euro gegönnt hätte? Es wäre: Anstand