NEUER PRÄSIDENT. Seit Ende Mai steht Michael Rohregger an der Spitze der Rechtsanwaltskammer Wien. Er folgt auf Michael Enzinger, der nach acht Jahren nicht mehr zur Präsidentenwahl antrat.
ANWALT AKTUELL: Herr Professor Rohregger, Sie wurden ohne Wahlkampf Präsident der Rechtsanwaltskammer Wien. Ist das die neue Demokratie?
Michael Rohregger: Dass es diesmal nur einen Kandidaten gegeben hat, hat keine große Bedeutung. Das Amt ist zeitlich sehr herausfordernd und daher nicht jedermanns Sache. Außerdem hat Präsident Enzinger in acht Jahren ganz hervorragende Arbeit geleistet. Es gab also offenbar keine Situation, in der viele geglaubt haben, man muss alles umkrempeln. Es musste nur einfach jemand gefunden werden, der nachfolgt.
ANWALT AKTUELL: Thema „Umkrempeln“. Was sind Ihre Pläne für die nächsten vier Jahre?
Michael Rohregger: Wie schon gesagt, Präsident Enzinger hat mir ein Haus übergeben, das sehr gut in Schuss ist. Aber natürlich bedarf eine solche Institution ständiger Anpassungen. An Herausforderungen sehe ich jedenfalls das Thema Künstliche Intelligenz. Wir müssen unseren Stand darauf vorbereiten, dass hier Teile unserer Tätigkeit substituiert werden könnten. Und in einigen Punkten bedarf die österreichische Rechtsordnung der Modernisierung, beispielsweise beim Thema der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren.
ANWALT AKTUELL: Stichwort KI und ChatGPT. Wie gefährlich sind diese digitalen Instrumente für den Rechtsanwaltsstand?
Michael Rohregger: Da muss man zwei Aspekte unterscheiden. Die grundsätzliche globale Entwicklung dieser Instrumente kann ich nicht abschätzen. Hier kann ich nicht schlauer sein als jene internationalen Konzerne, die mit Milliardenbudgets daran arbeiten. Aber wir müssen uns fragen, welchen Einfluss die KI und ChatGPT auf die Juristerei haben könnten. Das kann im Bereich der Beratung und Vertretung, letztlich aber auch im Bereich der Entscheidungsfindung der Fall sein. In der Beratung und Vertretung gibt es erste Ansätze, zum Beispiel bei den Fluggastrechten. Wenn ein Flug gecancelt wird, ergibt sich aus dem Gesetz recht klar, welchen Anspruch man hat. Da kann man Beratung und in gewissem Maß auch die Vertretung automatisieren. Das ist nur ein kleiner Bereich, aber je mächtiger die KI wird, umso mehr kann da hinüberwandern. Auch bei der Entscheidungsfindung kann KI letztlich zum Einsatz kommen. Ich glaube nicht, dass dies bei der Verhängung von Haftstrafen bald der Fall sein wird, aber bei Geschwindigkeitsüberschreitungen kann schon jetzt automatisiert eine Anonymverfügung verschickt werden, ohne dass ein Mensch eingebunden ist. Hier müssen wir sehr genau darauf achten, dass nicht irgendwann automatisierte Prozesse aus dem Ruder laufen.
ANWALT AKTUELL: Werden KI und ChatGPT demnächst Konzipientinnen und Konzipienten ersetzen?
Michael Rohregger: Menschliche Fähigkeiten werden sich so schnell nicht zur Gänze ersetzen lassen. Dass man auf Assistenzsysteme zurückgreift, ist etwas anderes. Spracherkennung kann etwa Schreibarbeit ersetzen. Konzipientinnen und Konzipienten erbringen hingegen hochqualifizierte geistige Dienstleistungen, die sich kurzfristig nicht so einfach durch die neuen digitalen Möglichkeiten ersetzen lassen.
ANWALT AKTUELL: Ihr Vorgänger als Präsident hat oft sehr eigenständig Themen, Vorschläge und Forderungen in die Öffentlichkeit getragen. Werden Sie ihm in dieser selbstbewussten Linie nachfolgen?
Michael Rohregger: Selbstverständlich. Ich glaube, es ist die Aufgabe eines Präsidenten, auf Verbesserungsvorschläge hinzuweisen.
ANWALT AKTUELL: Was sagen Sie zur immer wieder erhobenen Forderung nach einem besseren Schutz der Beschuldigten?
Michael Rohregger: Dieses drängende Problem ist mir sehr wichtig. Wenn wir schauen, wo es rechtsstaatliche Defizite gibt, dann ist es jedenfalls das Ermittlungsverfahren, über das man nachdenken muss. Neben dem fehlenden Kostenersatz geht es um die fallweise extrem lange Verfahrensdauer sowie um die Tatsache, dass die StPO auf technische Neuerungen seit Jahrzehnten keine Rücksicht nimmt. Die Sicherstellung elektronischer Tatbestände führt zu Effekten, die extreme Nachteile für Betroffene haben. Das ließe sich vermeiden.
ANWALT AKTUELL: Was soll mit Menschen geschehen, die nach oft langen Verfahren freigesprochen werden und riesige Kosten tragen müssen?
Michael Rohregger: Wer im Zivilverfahren obsiegt, hat einen Anspruch auf Kostenersatz. Im Strafverfahren wird der von einer Schuld Freigesprochene hingegen mit allen Nachteilen, die aus einer solchen Situation resultieren, belastet. Es sind nicht nur finanzielle Nachteile, es sind auch Stigmatisierungen in der Öffentlichkeit und berufliche Nachteile. All diese Kollateralschäden kann man schwer abgelten. Aber bei den Kosten der Verteidigung wäre eine Abgeltung möglich. Das wäre das rechtsstaatliche Minimum.