Politiker im Talar


Stephen M. Harnik
Stephen M. Harnik

SUPREME COURT. Das Höchstgericht der USA steht unter Druck. Bereits 34 Prozent der Bevölkerung können sich eine Abschaffung des „Supreme Court“- vorstellen. Grund dafür ist die Häufung politisch motivierter Entscheidungen.

 

Stephen M. Harnik

Nach der Sommerpause hat nun die neue Session des U.S. Supreme Court begonnen. In dieser Hinsicht hat eine kürzlich
durchgeführte Gallup-Umfrage einen Popularitätswert des Höchtgerichts von lediglich 40 % erhoben und damit den Tiefpunkt seit dem Beginn dieser Umfragen im Jahr 2000. Es kommt aber noch schlimmer: In einer anderen Umfrage bejahten 34 % der Befragten die Aussage, dass es wohl besser wäre das Gericht abzuschaffen, wenn dieses wiederholt Urteile fällt die vom Großteil der amerikanischen Bevölkerung abgelehnt werden. Vor zwei Jahren stimmten dem nur 20% zu. Wohl aufgrund dieser tristen Statistiken haben es vier Höchstrichter für notwendig erachtet sich vor Beginn der Oktober Session an die Öffentlichkeit zu wenden. Eine solche Vorgehensweise ist generell uncharakteristisch für den gesamten Richterstand und umso mehr für die Richter des U.S. Supreme Court. Besonders prägnant war der Ausspruch von Höchstrichterin Amy Coney Barrett, dass das Gericht eben nicht aus einem Haufen Parteisoldaten bestehe. Justice Samuel A. Alito meinte, dass das Gericht nicht, wie von manchen Medien vorgeworfen, durch „gefährliche Dissidenten“ gekapert worden sei, die mithilfe von „sneaky and improper methods“ unbeobachtet Entscheidungen im Schutze der Nacht treffe. Diese Charakterisierung – so Alito – sei ein beispielloser Versuch das Höchstgericht einzuschüchtern und dessen Stellung
als unabhängige Institution zu hinterfragen. Justice Clarence Thomas beschwerte sich auf ähnliche Weise, dass gerade ein unberechtigter medialer Hype stattfinde.

Knappe Entscheidungen
Diese Situation ist das Resultat einer Serie von knappen 5:4 Entscheidungen (Konservative gegen Liberale), z.B. eine Anordnung an die Biden-Regierung, die unter Präsident Trump eingeführtenharschen Asylregeln beizubehalten sowie zur Aufhebung eines Covid-Moratoriums für Zwangsräumungen auf Basis von selbst erklärten Härtefallanträgen. Der aufsehenerregendste Fall war aber Whole Woman’s Health v. Jackson, in dem der Supreme Court kurz vor Beginn der Herbstsession der Bekämpfung eines Anti-Abtreibungsgesetzes im Staat Texas (genannt SB-8 oder „heartbeat law“) eine Absage erteilte.
Das Texas heartbeat law ist am 1. September in Kraft getreten und verbietet im Ergebnis jegliche Abtreibung. Es steht damit im direkten Widerspruch zur berühmten Supreme Court Entscheidung Roe v. Wade aus dem Jahr 1973, demnach Frauen ein verfassungsrechtlich gewährleistetes Recht auf Abtreibung haben. Das gegenständliche texanische Gesetz ist im Prinzip ein bounty law, welches einen zivilrechtlichen Anspruch auf mindestens $10.000 für jeden festschreibt, der einen Sachverhalt aufdeckt, in dem eine Person Beihilfe zu einer Abtreibung leistet, welche mehr als 6 Wochen nach der Befruchtung stattgefunden hat. Dies vor dem Hintergrund dass 85% der Abtreibungen in Texas in diesen Zeitraum fallen und dass vielen Schwangeren dieser Umstand innerhalb des erlaubten Zeitraumes noch gar nicht bewusst ist.

 

Streitfall Texas
SB-8 ist nahezu kafkaesk: Erstens wird der Begriff „Beihilfe“ nicht definiert. Dieser könnte die Krankenanstalt umfassen, den Arzt, der den Eingriff durchführt, die Pfleger, Rechtsberater oder sogar Spender, die eine Institution wie Planned Parenthood
unterstützen oder einen Taxifahrer, der die Schwangere in die Abtreibungsklinik bringt. Im „Erfolgsfall“ bekommt der „Aufdecker“ (oder Kopfgeldjäger) mindestens $10.000 und der Beklagte muss die Kosten der Klage ersetzen. Der oder die Beklagte kann zwar beweisen, dass (iSd Casey Rspr) die Nichtdurchführung der Abtreibung eine unbillige Härte gewesen wäre, erhält aber umgekehrt die Kosten der Verteidigung auch bei Obsiegen nicht ersetzt. Im Fall eines beklagten Arztes könnte diesem bei Unterliegen auch gerichtlich untersagt werden weiter Abtreibungen durchzuführen. Texas ist der zweitbevölkerungsreichste U.S. Bundesstaat. Nachdem sich nur wenige Abtreibungskliniken diesem Risiko aussetzen wollen, werden seit September kaum mehr Termine vergeben bzw. haben manche Kliniken überhaupt geschlossen. Eine Folge davon ist, dass Abtreibungskliniken in den benachbarten Staaten Oklahoma und Louisiana und sogar im angrenzenden
Mexiko seither Überlastung melden.

Nach Verabschiedung des SB-8 Gesetzes schlossen sich einige texanische Kliniken zusammen um das Gesetz als verfassungswidrig zu bekämpfen und dessen Anwendung zu unterbinden. Der Antrag wurde von der konservativen Mehrheit mit 5:4 Stimmen (Chief Justice John Roberts hat mit den Liberalen gestimmt, er legt immer wieder besonderes
Augenmerk auf den öffentlichen Ruf des Gerichts) abgewiesen. Dies geschah aber aus rein prozessrechtlichen Gründen: So stimmte das Höchstgericht dem äußerst konservativen Fifth Circuit Court of Appeals zu, dass keine Zuständigkeit im Erstgericht (der District Court) gegeben war, die Verfassungskonformität des Gesetzes zu prüfen. Normalerweise muss eine Verfassungsklage gegen den mit der Ausübung des Gesetzes ermächtigten Regierungsbeamten (meist der jeweilige
Gouverneur) eingebracht werden. Das SB-8 Gesetz ermächtigt allerdings den Privatbürger – nicht Beamte. Um das Gesetz anfechten zu können, mussten die Kläger daher eine Sammelklage gegen hypothetische Parteien einbringen, u.a. auch die gesamte bundesstaatliche Judikative, die ja mit der Anhörung privater Klagen bei der Durchsetzung des SB-8 Gesetzes mitwirken würde. Für eine Klage dieser Art ist allerdings keine Zuständigkeit gegeben, da hierfür zunächst ein tatsächlicher (und kein hypothetischer) Streitfall vorliegen muss. Und ohne gerichtliche Zuständigkeit ist auch keine Verfassungsklage möglich. Diese Argumentationslinie wurde nun durch den Supreme Court bestätigt.

 

Konservative setzen sich durch
In den Ausführungen zu ihrem abweichenden Votum merkte Justice Sotomayor an, dass der prozessrechtliche Mangel einzig dem texanischen Gesetzgeber zuzuschreiben sei, weshalb das Höchstgericht laut Sotomayor und zwei weiteren liberalen Höchstrichtern trotz prozessrechtlicher Hürden dazu befugt sei, das Gesetz vorübergehend auszusetzen und den Kliniken die Möglichkeit zu geben die Verfassungsklage gebührend zu erläutern. Die konservative Mehrheit zeigte sich davon aber wenig beeindruckt.

Nach Abweisung der Klage aufgrund mangelnder Zuständigkeit konnte das SB-8 Gesetz deshalb über den gesamten September aufrecht bleiben, bis es dann schlussendlich aufgrund einer Klage durch die Bundesregierung vorübergehend außer Kraft gesetzt wurde. Der Schaden war zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits angerichtet. Denn aufgrund der bestehenden Unsicherheiten und der (wenn auch geringen) Wahrscheinlichkeit, dass das Gesetz mit rückwirkender Wirkung wieder in Kraft gesetzt werden könnte, entschieden sich die meisten texanischen Abtreibungskliniken trotz der einstweiligen Außerkraftsetzung des Gesetzes dazu, vorerst nur äußerst beschränkt Eingriffe durchzuführen.

Obwohl das Gesetz derzeit die texanischen Gerichte durchläuft, wird es wohl eher nicht das Ende von Roe v. Wade einläuten. Vielmehr besteht dieses Risiko aber in Verbindung mit dem Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization, in dem es um die Verfassungskonformität eines Verbots in Mississippi von Abtreibungen nach der 15. Schwangerschaftswoche geht und welcher im Dezember zur Anhörung im Supreme Court angesetzt ist. Vielerorts wird jetzt befürchtet, dass die oben erläuterte prozessrechtliche Entscheidung zum texanischen SB-8 ein Indiz dafür ist, dass das Höchstgericht das gegenständliche Abtreibungsgesetz aus Mississippi für verfassungskonform befinden wird – was die Grundsatzentscheidung
in Roe v. Wade weiter abschwächen würde. Sollte das Gericht Roe v. Wade gar aufheben, würde dies schlagartige Auswirkungen in den USA haben – denn in zehn Bundesstaaten gelten sog. „trigger statutes“ demnach Abtreibungen im
Falle einer Aufhebung von Roe v. Wade automatisch verboten werden. Unterm Strich würde die Aufhebung von Roe v. Wade dazu führen, dass von heute auf morgen ein Abtreibungsverbot in 22 Bundesstaaten herrschen würde – also ein kompletter
Umbruch.

 

Vertrauen schwer erschüttert
Angesichts dieser Entwicklungen und der eindeutigen Spaltung der Richter ist das öffentliche Vertrauen und der Glaube an die Unparteilichkeit des Höchstgerichts nunmehr schwer erschüttert. Und zwischenzeitlich untersucht bereits eine von
Präsident Biden einberufene Kommission von 36 Rechtsexperten das Einberufungsverfahren, die (lebenslange) Amtszeit, Transparenz und Zusammenstellung des Höchstgerichts, und dessen Stellung in der verfassungsmäßigen Regierung. Das
Ergebnis der Untersuchungen wird mit Spannung erwartet und soll am 14. November veröffentlicht werden. Eine Beschränkung der Amtszeit wird von den durch die Republikaner ernannten Höchstrichter abgelehnt. Derzeit ist es aber auch unwahrscheinlich, dass sich eine ausreichende demokratische Mehrheit für die Einführung der verkürzten Amtszeit finden würde. Sollte sich der Ruf des Höchstgerichts aber weiter verschlechtern – beispielsweise durch eine Aufhebung von
Roe v. Wade, welche von ca. zwei Dritteln der Bevölkerung abgelehnt wird – so wäre eine entsprechende Reform des Gerichts durchaus vorstellbar. Angesichts dieser Umstände versuchen die Höchstrichter Alito, Barrett und Thomas wie gesagt nun öffentliches Verständnis und Unterstützung für ihre kontroversen Entscheidungen zu erhaschen. Oder womöglich beabsichtigen sie gar die Öffentlichkeit auf zukünftige Entwicklungen vorzubereiten. Justice Sonia Sotomayor kann dem allerdings nichts abgewinnen. Im Rahmen einer Sitzung der American Bar Association fand sie diesbezüglich
klare Worte: „There is going to be a lot of disappointment in the law … a huge amount.“


Stephen M. Harnik
ist Vertrauensanwalt der Republik Österreich in New York.

Seine Kanzlei Harnik Law Firm berät und vertritt unter anderem österreichische Unternehmen in den USA.
(www.harnik.com)