Der Mensch muss in den Mittelpunkt

DR. WILFRIED LUDWIG WEH
DR. WILFRIED LUDWIG WEH

 

DR. WILFRIED LUDWIG WEH, Bregenz
Rechtsanwalt, Universitätspraxis, Landesbeamtenprüfung, EGMR-Praxis,
Gerichtsdolmetsch. Publiziert seit 1984 mit Schwerpunkt Menschenrechte national und international; Buch zum Europarecht: Vom Stufenbau zur Relativität, Das Europarecht in der nationalen Rechtsordnung. Viele weitere Publikationen. Vielfaches Auftreten vor beiden Europäischen Gerichtshöfen, vor dem Verfassungsgerichtshof und dem Obersten Gerichtshof.

weh@weh.at

 

 

 

EUROPA. Zur Glosse „Europa erledigt sich selbst“ (AA 2/21) meldet sich RA Dr. Ludwig Weh zu Wort. Er beklagt insbesondere den mangelnden Menschenrechtsschutz in der Europäischen Union.

 

Dass die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl nur sieben Jahre nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs
aus der Taufe gehoben werden konnte, baute auf langen Traditionen europäischer Einigungsversuche auf. Entscheidend wird aber wohl gewesen sein, dass damit ein gleichartiges Weltkriegsdebakel durch bessere Kontrolle von Deutschlands Schwerindustrie verhindert werden kann. Noch mehr galt das dann fünf Jahre später auch für Euratom. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft als dritte Gemeinschaft der heute fusionierten Europäischen Union (EU) hatte ursprünglich auch eher wirtschaftliche Zielsetzungen, als eine allgemeine Europäische Rechtsordnung zu werden. Bald hat dann aber der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Motor der Europäischen Rechtsentwicklung ausgesprochen, dass das Unionsrecht auch direkt anwendbar ist und sich der Einzelne darauf berufen kann, wo die Mitgliedstaaten bei seiner Umsetzung säumig
sind. Viel später hat der EuGH auch entschieden, dass die Mitgliedstaaten für Schäden aus dem Titel der Staatshaftung verantwortlich gemacht werden können, wenn sie Unionsrecht verspätet oder unzureichend umsetzen oder qualifiziert falsch anwenden. Ein aufmüpfiger junger Richter hat dann verlangt, dass die EU die Grundrechte anwende, sonst weigere er sich, Europarecht anzuwenden. Der EuGH hat dann bejaht, dass die Grundrechte die Messlatte allen Unionsrechts bildeten. Später hat der EuGH auch ausgesprochen, dass aus Assoziationsverträgen unmittelbare Rechte ableitbar sind. Von praktischer Bedeutung ist dies insbesondere für die Schweiz und die Türkei, aber auch teilweise für den Maghreb und
die ehemaligen Ostblockstaaten. Der große Rückschlag kam dann mit dem ominösen 11. September 2001. Danach hat die EU auf „Teufel komm heraus“ Polizeirecht erlassen. Ein Insider der Kommission hat bei einem Seminar erzählt, dass praktisch nur noch die Innenminister das Sagen gehabt hätten. Am Höhepunkt dieser Fehlentwicklung stand der Europäische Haftbefehl, bei dem ausschließlich der ersuchende Staat das Sagen hat. Zum Vergleich: Ein Konsument kann immer an seinem Wohnort klagen, bei Verdacht einer Straftat konnte sich ein Verdächtiger aber vor seinem eigenen Richter gar nicht wehren. Der EuGH hat dann später doch Einwendungen zugelassen. Diese Dominanz der Polizeiminister hat sich dann geändert, als die frühere dritte Säule Zusammenarbeit Justiz und Inneres (ZBJI) in den unionsrechtlichen Rechtsrahmen integriert worden ist und seither im Codezisionsverfahren behandelt wird. Mit dem Vertrag von Lissabon kam dann auch die Europäische Grundrechte Charta (EUGRC), die ausdrücklich keinen Rückschritt hinter die EMRK zulässt, andererseits aber neue Rechte gebracht hat, wie das Grundrecht auf Asyl und das Recht von Kindern auf beide Eltern, um nur zwei Beispiele zu nennen. Immer noch aber bleibt der Einzelne mediatisiert über seine eigenen nationalen Gerichte. Andererseits dünnt auch der Menschenrechtsschutz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus, wenn im letzten Jahr nur eine Handvoll Urteile gegen Österreich ausgesprochen wurden. Die naheliegende Antwort auf die Problemstellung ist: Die Europäische Union muss sich dazu bekennen, dass sie von einem Staatenverband zu einem „Staat“ der Bürger werden will. Eine zentrale Forderung dafür muss sein, dass die Union einen Gerichtshof einrichtet, bei dem Grundrechtsverletzungen geltend gemacht werden können, parallel zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Der einzelne Bürger weiß am besten, wo der Schuh drückt, und er wird der nachhaltigste Verfechter seiner Rechte sein. Falls ein Grundrechtsgerichtshof nicht gelingt, wäre es auch schon ein entscheidender Fortschritt, wenn die Verletzung
der Vorlagepflicht durch die nationalen Gerichte eingeklagt werden könnte. Die Europäische Union ist nach der Judikatur ein Rechtsgebilde, das daher nur dann funktionieren kann, wenn der Bürger Subjekt und nicht Objekt dieses Rechtssystems ist.