„Die Rechtsstaatsdiskussion ist eine große Chance“

KATHARINA LEHMAYER Mag. iur.; Rechtsstudium, Gerichtspraxis und 9 Jahre Richterin in Wien, ab 1999 Richterin LG und OLG Linz, 2010–2016 Präsidentin des LG Linz, seit 2016 Präsidentin des OLG Linz
KATHARINA LEHMAYER Mag. iur.; Rechtsstudium, Gerichtspraxis und 9 Jahre Richterin in Wien, ab 1999 Richterin LG und OLG Linz, 2010–2016 Präsidentin des LG Linz, seit 2016 Präsidentin des OLG Linz

STIMMUNG. Katharina Lehmayer, Präsidentin des OLG Linz, sieht in den Turbulenzen zwischen Politik und
Justiz einen gesamtgesellschaftlichen Lernprozess.
Im ANWALT AKTUELL-Gespräch geht es auch um straffällige Männer, Justizkarriere für Frauen und den
Umgang von Gerichten mit der Pandemie.

 

Interview: Dietmar Dworschak

 

ANWALT AKTUELL: Wie sieht es in Sachen Geschlechter-Parität in der österreichischen Justiz aus?


Präsidentin Lehmayer: Mir ist grundsätzlich wichtig, dass in der Rechtsprechung die Geschlechterparität
widergespiegelt wird. Da hatten wir in den Siebzigerjahren anfangs noch einen Anteil der Richterinnen nur im einstelligen
Prozentbereich. Dann hat ein toller Aufholprozess gestartet und der aktuelle Stand ist nicht schlecht: es gibt eine Präsidentin des Obersten Gerichtshofes, wir haben mittlerweile die fünfte Justizministerin, vor Ihnen sitzt eine Präsidentin eines Oberlandesgerichts,… Da hat sich die Justiz wirklich weiterentwickelt. Die Zahl der Richterinnen liegt in Österreich 
mittlerweile deutlich über 50 Prozent.

 

ANWALT AKTUELL: Ganz anders sieht die neueste Statistik der Verurteilungen aus. Bei Österreichs Gerichten wurden zuletzt 85 Prozent Männer und 15 Prozent Frauen schuldig gesprochen. Sind die Frauen so viel braver oder haben sie weniger Gelegenheit zu Straftaten?


Präsidentin Lehmayer (lacht): Sie haben für Gewaltdelikte weniger Kraft, um es einmal ganz einfach zu erklären.
Frauen sind zwar auch da vertreten, jedoch vorwiegend bei psychischer Gewalt. Frauen sind von der Persönlichkeit in der Regel einfach defensiver.


ANWALT AKTUELL: Sie und Ihre Präsidentenkollegen der Oberlandesgerichte Wien, Graz und Innsbruck haben
eine gemeinsame Erklärung veröffentlicht. Darin steht, dass sie „alle Versuche zurückweisen, aus parteipolitischen
Gründen das Vertrauen in die Justiz, insbesondere in die Staatsanwaltschaften, zu erschüttern“. Da haben Sie aber schon mit Wattebällchen geschossen. Geht das nicht schärfer?


Präsidentin Lehmayer: Ich glaube, in dieser Erklärung waren genau die zentralen Aussagen, die in der aktuellen Situation notwendig waren. Wir sind keine Politikerinnen und Politiker, sondern für das Justizmanagement zuständig. Wir haben unsere Meinung klar in mehreren Punkten zum Ausdruck gebracht. Ich sehe keine Notwendigkeit, schärfer zu schießen. Die Botschaft war sehr klar und ist von den Medien sehr gut aufgegriffen worden.

 

ANWALT AKTUELL: Das Anpatzen und das Infragestellen der Justiz dauert ja schon seit 2017. Warum beginnen die Justizvertreter sich erst jetzt zu wehren?


Präsidentin Lehmayer: Ich möchte eines klarstellen. Es heißt immer: die Justiz. Man muss wissen, dass die Justiz aus den Gerichten besteht, die in ihrer Rechtsprechung völlig unabhängig sind. Da gibt es einen Obersten Gerichtshof, vier Oberlandesgerichte, zwanzig Landesgerichte und 115 Bezirksgerichte. Da arbeiten gerundet 1.800 Richterinnen und Richter in völliger inhaltlicher Unabhängigkeit und ich kann und will keinem einzigen Richter in seiner Rechtsprechung irgendetwas vorschreiben. Daneben gibt es die Staatsanwaltschaften, die weisungsgebunden sind, und dann gibt es das Justizministerium. Es gibt aktuell kein Anpatzen der gesamten Justiz, sondern eine neue Form der Kritik an den Staatsanwaltschaften. Das muss man auch einmal ganz klarstellen: Es geht dabei also nicht um die gesamte Justiz. Ich hätte keine unsachliche Kritik an einem Gerichtsurteil im Kopf. Bei den Staatsanwaltschaften ist das aktuell etwas anderes.


ANWALT AKTUELL: Sie haben das jetzt sehr schön aufgelistet und differenziert. Ich würde mit Ihnen wetten, wenn wir hinunter auf die Straße gehen, dass acht von zehn Personen, die wir fragen, nicht wissen, was der Verfassungsgerichtshof ist. Ihre Differenzierung in Ehren, doch die Frau und der Mann auf der Straße sagen nur „die Justiz“…

 

Präsidentin Lehmayer: Genau deshalb habe ich hier diese Differenzierung unternommen, weil sie mir im öffentlichen Diskurs fehlt. Genau dieses staatsbürgerliche Wissen vermisse ich oftmals. Bei jedem Interview frage ich mich: Warum sagt
das niemand? Darum wollte ich das so genau auseinanderhalten, wiewohl ich Ihnen völlig recht gebe. Dieses Interview wird vermutlich von einem Fachpublikum gelesen, das dieses Wissen hat, aber es ist mir eben wichtig, das bei jeder Gelegenheit zu betonen. Es gibt den klaren Unterschied zwischen den unabhängigen Gerichten und den weisungsgebundenen Staatsanwaltschaften. Die aktuellen Konflikte spielen sich im Übrigen nur zwischen einzelnen Repräsentanten der Politik und einer Staatsanwaltschaft ab.


ANWALT AKTUELL: Als Präsidentin eines Oberlandesgerichts haben Sie täglich mit sehr vielen verschiedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Justiz zu tun. Wie ist hier die Stimmung angesichts der dauernden Attacken der Politik?


Präsidentin Lehmayer: Das wird natürlich intensiv diskutiert. Wir sind aber selbstbewusst und stark genug, das richtig einordnen zu können. Ich sehe diese öffentliche Diskussion durchaus als Chance, den Wert des Rechtsstaats wieder
einmal ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit zu rücken. Ich bekomme ab und zu Briefe, in denen steht „liebe Frau Präsidentin, ich bin mit dem Urteil nicht einverstanden, tun Sie was dagegen, das ist ja ein Fehlurteil!“ Dann schreibe
ich höflich sinngemäß zurück: „Gott sei Dank kann ich da nichts machen und bitte beschreiten Sie den Instanzenweg“. Also ich denke mir, dass diese Rechtsstaatsdiskussion doch auch die von Ihnen angesprochenen „Frau und Mann auf der Straße“ jetzt mehr interessiert. Darin liegt eine große Chance für uns alle.


Frau Präsidentin, danke für das Gespräch.