Freibier, Waffen, Cannabis oder fristlose Kündigung?
Wie die Debatte rund um die Impfpflicht in den USA Fahrt aufnimmt.
Stephen M. Harnik
Zu Beginn seiner Amtszeit versprach Präsident Joe Biden, in den ersten 100 Tagen seiner Präsidentschaft mehr als 100 Millionen Amerikaner gegen das COVID-19 Virus zu impfen. Dieses Ziel erreichte
er bereits am 58. Tag. Mittlerweile wurde 170.8 Millionen Amerikanern (bzw. 51 % der Bevölkerung) die erste Dosis verabreicht, 139 Millionen (bzw. 41.9 %) sind vollständig geimpft. Nachdem die
Zahl der täglichen Impfungen im April ihren Höhepunkt erreichte, ist der Tagesdurchschnitt nun wieder stark gefallen. Die einzelnen Bundesstaaten bemühen sich daher ihre Bürger mit kreativen
Maßnahmen zur Impfung zu motivieren: So verloste Ohio kürzlich $1 Million unter frisch geimpften Personen, in Illinois gibt es gratis Eintrittskarten für den Six Flags Vergnügungspark, Freibier
in New Jersey und U-Bahn Tickets in New York. Die wohl kuriosesten Anreize gab es aber wohl in Washington, wo Cannabis-Joints als Teil der Initiative „Joints for Jabs“ verteilt wurden
und in West Virginia, wo gar Schusswaffen verlost wurden. Auch private Unternehmen beteiligten sich mit Gutscheinen und Auslosungen. Schlussendlich wird man aber wohl nicht alle impfen können,
denn die Impfskepsis sitzt in weiten Teilen
der Bevölkerung einfach zu tief. Mit der Wiederöffnung von Büros, Geschäften, Universitäten und öffentlichen Einrichtungen stellt sich daher – wie auch in Österreich – die große Frage, ob und
unter welchen Voraussetzungen der Staat seine Bürger zur Impfung verpflichten darf. Weiters wird auch diskutiert, ob und inwiefern private Arbeitgeber eine Impfpflicht innerhalb des Betriebs
auferlegen dürfen.
Anreize oder Impfpflicht?
Aus verfassungsrechtlicher Sicht gibt es sicherlich genügend Handlungsspielraum für eine bundesstaatliche Impfplicht, auch wenn die diesbezüglich ausschlaggebende Grundsatzentscheidung des
Supreme Courts bereits mehr als 116 Jahre zurückliegt. In Jacobson v. Massachusetts (1905) befasste sich das Höchstgericht mit einer Verfassungsklage gegen die damals im
gleichnamigen Bundesstaat eingeführte Pocken-Impfpflicht, deren Nichtbefolgung mit einer Geldstrafe von $5 ($150 bei heutigem Wert) geahndet wurde. Der Kläger, ein Pastor aus Cambridge, hatte
sich aufgrund der Nebenwirkungen gegen die Impfung entschieden und beklagte, dass die Impfpflicht und die damit verbundene Strafzahlung gegen
die im 14. Zusatzartikel zur Verfassung verankerte Due Process Klausel verstoße und einen unrechtmäßigen Eingriff in seine bürgerlichen Freiheitsrechte darstelle. Mit 7-zu-2 Stimmen
entschied das Höchstgericht, dass jeder Bundesstaat das Recht habe, angemessene Gesetze zum Schutze der öffentlichen Gesundheit zu verabschieden. So handle es sich bei dem besagten Gesetz
keineswegs um eine willkürliche Maßnahme. Alle Bürger würden gleich behandelt und es bestehe Verhältnismäßigkeit zwischen dem Zweck – der Vorbeugung einer bedrohlichen Pockenepidemie – und der
Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechte.
Impfzwang „verhältnismäßig“
Auch über hundert Jahre später wird die Jacobson Entscheidung immer wieder aufgegriffen, um bundesstaatliche Gesundheitsmaßnahmen zu begründen. So zum Beispiel in Philips v. City of New
York (2015), zur Aufrechthaltung der New
Yorker Impfpflicht für Schulkinder im Rahmen des New York Public Health Law. Zwar erlaubt das
Gesetz Ausnahmen aus gesundheitlichen und glaubensbedingten Gründen, es bleibt dem New Yorker Commissioner of Health aber überlassen im Falle des Ausbruchs einer Krankheit, deren
Vorbeugung durch die Verabreichung von Impfstoffen
möglich ist, die von einer Ausnahme betroffenen Kinder vom Unterricht fernzuhalten. Phillips betraf die Klagen zweier Familien gegen das Impfgesetz: Im ersten Fall, weil ein von der
Impfpflicht ausgenommenes Kind nach einem
Windpockenvorfall unter Anwendung des Gesetzes vom Unterricht ferngehalten wurde und im zweiten Fall, weil der Antrag auf Befreiung von der Impfpflicht für ein anderes Kind zurückgewiesen wurde.
Unter Verweis auf Jacobson urteilte der Second Circuit Court of Appeals zunächst, dass das New Yorker Gesetz nicht gegen die Due Process Klausel verstoße. Weiters würde keine
verfassungswidrige Einschränkung der freien Religionsausübung vorliegen, da das Gesetz einerseits auf alle Bürger gleich zutreffe und die Einschränkung außerdem dem Schutze der öffentlichen
Gesundheit diene und diesbezüglich verhältnismäßig sei. Ein Antrag auf Anhörung durch den Supreme Court („writ of certiorari“) wurde in weiterer
Folge von diesem zurückgewiesen.
Impfpflicht für Arbeitnehmer
Die Frage der Impfpflicht ist heutzutage angesichts der COVID-19 Pandemie insbesondere im Arbeitswesen von besonderer Relevanz. Diesbezüglich hat die U.S. Equal Employment Opportunity
Commission (EEOC), eine für die Bekämpfung von Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf zuständige Bundesbehörde, zu diesem Thema Ende Mai klar Stellung bezogen: So ist es Arbeitgebern
laut EEOC Richtlinien generell gestattet, einen Impfnachweis von Angestellten zu verlangen und ungeimpften Arbeitnehmern den Zutritt zum Arbeitsplatz zu verweigern. Selbstverständlich müssen
diese impfbedingten Einschränkungen für alle Arbeitnehmer gleich gelten. Im Rahmen des Americans with Disabilities Act (ADA) sowie des Title VII of the Civil Rights Acts (Title
VII) gilt eine Ausnahme allerdings dann, wenn ein Arbeitnehmer aus gesundheitlichen
Gründen oder aufgrund einer aufrichtigen religiösen Glaubenseinstellung die Impfung verweigert.
In diesem Fall ist der Arbeitgeber dazu verpflichtet, angemessene Vorkehrungen („reasonable accommodations“) zum Schutze des betroffenen Arbeitnehmers zu treffen, wie z. B. die
Zurverfügungstellung von Gesichtsmasken für
die betroffene Person, Social Distancing Maßnahmen, Home Office, oder Abänderung der Dienstzeiten. Was in dieser Hinsicht als angemessen gilt hängt von der Art der Impf-Weigerung ab.
Sollte diese auf religiösen Ansichten beruhen, ist der
Arbeitgeber unter Title VII nur dazu verpflichtet, Vorkehrungen zu treffen die sich mit geringfügigen Kosten realisieren lassen. Bei gesundheitlichen oder medizinischen Gründen – welche unter den
Geltungsbereich des ADA fallen – kann
der Arbeitgeber nur dann auf entsprechende Vorkehrungen verzichten, wenn diese mit erheblichen
Kosten verbunden wären oder wenn die Anwesenheit des ungeimpften Arbeitnehmers trotz der Vorkehrungen ein signifikantes Risiko für andere Mitarbeiter darstellen würde.
Erste Impf-Urteile
US-Universitäten, bereits auf eine Impfpflicht bestehen, belassen es viele andere derzeit noch bei finanziellen oder anderwärtigen Anreizen. Denn trotz der EEOC Richtlinien wird in dieser
Hinsicht eine Welle an Klagen befürchtet. Ein
erster Fall schlägt bereits in North Carolina Wogen: Dort muss sich nun ein Gericht in Durham County mit der Klage eines ehemaligen Beamten gegen Sheriff Clarence Birkhead befassen. Der Beamte
hatte die von seinem öffentlichen Arbeitgeber vorgeschriebene Impfung verweigert und wurde daraufhin entlassen. Vor Gericht fordert er nun seine Wiedereinstellung, sowie den verlorenen Gehalt. Es
bleibt abzuwarten wie Gerichte auf Klagen dieser Art reagieren werden, schlussendlich sind aber vor allem die einzelstaatlichen Gesetzgeber gefragt verfassungskonforme Regelungen zu treffen.
Bereits in zwei Bundesstaaten, Montana und Arkansas, wurden Gesetze verabschiedet, die es Arbeitgebern ausdrücklich untersagen ihre Angestellten zur Impfung zu zwingen.
In Florida ist es Unternehmen unter Androhung von Geldstrafen seit Mai untersagt einen Nachweis der COVID-19 Impfung von Angestellten und Kunden zu verlangen. Der National Academy for State
Health Policy liegen 85 weitere Gesetzesvorschläge mit ähnlichen Einschränkungen vor. Andere gehen in die Gegenrichtung: In New Jersey beispielsweise unterzeichnete Gouverneur Phil Murphey
bereits zu Beginn der weltweiten Pandemie im Januar 2020 ein Gesetz, demnach
Angestellte im Gesundheitswesen dazu verpflichtet wurden sich der Grippeimpfung zu unterziehen. Es scheint klar, dass sich zukünftige Impfbestimmungen in den Vereinigten Staaten lokal
unterscheiden werden. Voraussehbar ist außerdem,
dass sich noch einige Gerichte – auf örtlicher und bundesweiter Ebene – mit entsprechenden Richtlinien und Arbeitgeberbestimmungen befassen werden. Ob die Frage nochmals vom Supreme
Court aufgegriffen wird, bleibt abzuwarten.
Ich möchte mich sehr herzlich bei meinem Associate Armin Kaiser für seine Mithilfe bedanken.