„Rechtsstaat darf nicht zum Long-Covid-Patienten werden“
ÖRAK-Präsident Dr. Rupert Wolff im Gespräch mit Anwalt Aktuell über die
coronabedingten Grundrechtseinschränkungen und den Ibiza Untersuchungsausschuss.
ANWALT AKTUELL: Der Sommer naht, die Corona- Zahlen sinken, die Impfung schreitet voran und ein Ende der Pandemie scheint zumindest in Sichtweite. Müssen die Grundrechtseinschränkungen jetzt umgehend fallen?
Rupert Wolff: Grundsätzlich verhält es sich in einem demokratischen Rechtsstaat so, dass nicht die Freiheit begründungsbedürftig ist, sondern deren Einschränkung. Um das
Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch zu bewahren, waren Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte notwendig, die aber selbstverständlich wieder abgebaut werden müssen, sobald die
Gefährdungslage diese nicht mehr erfordert. Klar ist, dass der Rechtsstaat nicht zum Long-Covid-Patienten werden darf.
ANWALT AKTUELL: Die Justiz und der Rechtsstaat sind derzeit auch im Ibiza-Untersuchungsausschuss im Fokus. Es gibt Kritik an
Chat-Veröffentlichungen und der Arbeitsweise der WKStA. Wie stehen Sie dazu?
Rupert Wolff: Zunächst möchte ich festhalten, dass in einem Rechtsstaat auch Kritik an der Justiz legitim und möglich sein muss. Ich halte das sogar für ganz wesentlich und ich
glaube, dass wir in Österreich sehr effektive Möglichkeiten haben,
um behördliches Handeln und auch gerichtliche Entscheidungen einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Wir Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte tun genau das beispielsweise seit Jahrzehnten in
unserem jährlichen Wahrnehmungsbericht, aber auch tagtäglich in unserer beruflichen Praxis. Bei der Beurteilung von Kritik ist für mich letztlich entscheidend, ob sie auf konstruktive Art erfolgt
und der Optimierung des Rechtsstaates dient oder ob es sich um Angriffe handelt, die das Vertrauen in die rechtsstaatlichen Institutionen wie etwa den Verfassungsgerichtshof untergraben.
Letzteres lehne ich ganz entschieden ab, auch weil man dadurch diese Institutionen gegen legitime Kritik immunisiert.
ANWALT AKTUELL: Hat der Untersuchungsausschuss Ihrer Meinung nach Reformbedarf in der Justiz offengelegt?
Rupert Wolff: Institutionen müssen sich ständig weiterentwickeln und sich auch von Zeit zu Zeit reformieren, die Justiz bildet hier keine Ausnahme. Im vorliegenden Fall sehe ich
vor allem bei der justizinternen Kommunikationskultur dringenden Handlungsbedarf. Statt mit schriftlichen Weisungen zu agieren, wurde offenbar vielfach Druck über ausufernde Berichtspflichten
oder Disziplinaranzeigen ausgeübt. Das muss sich ändern.
ANWALT AKTUELL: Wie verhält es sich mit den Untersuchungsausschüssen selbst? Fluch oder Segen?
Rupert Wolff: Untersuchungsausschüsse sind ein unverzichtbares Instrument der parlamentarischen
Kontrolle in einer Demokratie. Ich sehe es aber kritisch, dass parallel zu laufenden strafrechtlichen Ermittlungen dieselben Sachverhalte in einem Untersuchungsausschuss behandelt werden, wodurch
zwangsläufig die Unschuldsvermutung
untergraben wird. Das führt nicht nur zu einer Behinderung der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden, sondern natürlich vor allem zu Eingriffen in die Rechte Dritter. Ich halte das für
problematisch und reformbedürftig. Auf der anderen Seite könnte man aber auch darüber nachdenken, die Geschehnisse in Untersuchungsausschüssen für die Bürgerinnen
und Bürger transparenter und leichter zugänglich zu gestalten. Auch Gerichtsverhandlungen sind schließlich öffentlich.
Dafür muss allerdings gewährleistet sein, dass vertrauliche und geheime Informationen von allen Beteiligten auch tatsächlich so behandelt werden.
ANWALT AKTUELL: Zum Schluss eine Frage, die derzeit die Gemüter hochgehen lässt: Muss ein
Minister oder auch ein Bundeskanzler im Falle einer Verurteilung zurücktreten?
Rupert Wolff: Ich halte es in diesem Zusammenhang für ganz wesentlich, die fundamentale Bedeutung der Unschuldsvermutung hervorzuheben, die in der heutigen medialisierten Welt
von Twitter & Co. leider oftmals etwas zu kurz
kommt. Ermittlungen oder eine Anklage sind keine Verurteilung und sollten tunlichst auch nicht wie eine behandelt werden. In weiterer Folge ist ein Rücktritt im Falle einer hypothetischen
Verurteilung natürlich in erster Linie eine politische und moralische Frage, keine rechtliche. Es steht die Glaubwürdigkeit der Republik und ihrer höchsten Repräsentanten am Spiel.