KNIRSCHEN IM GEBÄLK. Dass die Justizministerin die Weisung zu einer Nichtigkeitsbeschwerde gegen ein Gerichtsurteil erteilt, kommt bei Österreichs Richterinnen und Richtern nicht gut an. Im Gespräch mit Präsident Gernot Kanduth geht es außerdem um fehlende Planstellen, Künstliche Intelligenz sowie um die Notwendigkeit, Gerichten eine Stimme zu geben.
Dr. Gernot Kanduth Interview: Dietmar Dworschak
Anwalt Aktuell: Rund um den Freispruch einer Gruppe Jugendlicher hat es medial ziemlich kontroverse Darstellungen und auch Meinungsäußerungen gegeben wie noch selten. Herr Präsident, wie groß ist aktuell die Gefahr, dass Gerichte zum Spielball von Politik und Medien werden?
Gernot Kanduth: Ich sehe eine weltweite Entwicklung, die Besorgnis erweckt. Selbst in den USA gibt es massive Angriffe gegen die unabhängigen Gerichte, auch von Regierungsseite, und so etwas schwappt früher oder später auf andere Staaten über. Es ist alarmierend, dass wir beim aktuellen Fall zwar versucht haben, zu erklären, wie das Urteil zustande gekommen ist, dass aber nicht der Wille da zu sein scheint, dies zu verste hen. Man fragt sich, ob hier politisches Kalkül oder anderes im Hintergrund steht, um die Er klärung bewusst nicht verstehen zu wollen. Das macht die Sache insofern ganz gefährlich, weil wir darauf angewiesen sind, dass es Vertrauen in alle drei Staatsgewalten gibt, hier insbesondere in die Gerichtsbarkeit.
Anwalt Aktuell: Dass Ihnen die Politik zur Seite steht, kann man nicht behaupten. Nach dem viel diskutierten Freispruch der Jugendlichen hat die Verteidigungsministerin (!) wörtlich gepostet: „Es kann nicht sein, dass Vergewaltiger mit milden oder gar keinen Strafen davonkommen“. Was halten Sie von so einer Aussage eines Regierungsmitglieds?
Gernot Kanduth: Wenn ich ein wenig ausholen darf: Wir als Richterinnen und Richter entscheiden über Anklagen. Man muss immer wieder betonen, dass im konkreten Fall keine Vergewaltigung angeklagt war. Schon gar keine Gruppenvergewaltigung. Wenn aber ein Mitglied einer Staatsgewalt, in diesem Fall der Regierung, die andere Staatsgewalt, nämlich die Gerichtsbarkeit, so reduziert in Frage stellt, von Falschurteilen und falschem Vor gehen spricht, dann ist das ganz besonders bedenklich.
Anwalt Aktuell: Vom Justizministerium kommt für den Richter, der den Freispruch gefällt hat, alles andere als Rückendeckung. Im Gegenteil – das Ministerium hat der Staatsanwaltschaft die Weisung erteilt, eine Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil zu erheben.
Gernot Kanduth: Es ist immer wieder zu betonen, dass die Gerichtsbarkeit nicht sakrosankt ist. Wir müssen uns sachlicher Kritik stellen. Wenn es aber, wie im konkreten Fall und auch in einem anderen Verfahren am Beginn des Jahres, zu Diffamierungen, Stigmatisierungen und Bedrohungen der Richterinnen und Richter kommt, dann ist eine Grenze überschritten, wo ich mir schon erwarten würde, dass die Gesellschaft ins gesamt, aber vor allem auch die Vertreter der an deren beiden Staatsgewalten, dem Einhalt gebieten. Dass die Ministerin für Justiz eine Weisung zur Einbringung einer Nichtigkeitsbeschwerde erteilt, ist ihr Recht. Allerdings sehe ich diese Weisung im Zusammenhang mit den aktuellen Bestrebungen, eine unabhängige Bundesstaatsanwaltschaft einzurichten, doch zumindest diskussionswürdig.
Anwalt Aktuell: Welches Feedback haben Sie bis her aus dem eigenen Berufsstand, von den Richte rinnen und Richtern?
Gernot Kanduth: Das, was massiv auffällt, ist ein Unverständnis gegenüber den Reaktionen aus der Politik. Der vorsitzende Richter des entscheidenden Schöffensenates ist nach dem Urteil persönlich bedroht worden. Aber auch seine Familie. Da herrschen Sprachlosigkeit und Enttäuschung unter den Kolleginnen und Kollegen, alleine gelassen zu werden. Das ist die Stimmung im Stand, die ich vermittelt bekomme.
Anwalt Aktuell: Gerichtsverhandlungen werden immer öfter von außen beeinflusst, unter anderem durch mediale Begleitung. Dies war auch in diesem Falle so. Wird im Richterstand darüber nachgedacht, wie man dagegenhalten kann, um die Sicht des Gerichts ausreichend in die Öffentlichkeit zu bringen?
Gernot Kanduth: Es ist in den letzten Jahren zu diesem Thema bereits eine Trendwende erreicht worden. Wir öffnen uns und versuchen, Urteile zu erklären. Dazu werden auch Ressourcen ein gesetzt. In der allgemeinen Sparsituation, in der wir uns befinden, ist es zwar schwierig, hier absolut notwendige Investitionen zu rechtfertigen. Dennoch zeigen die Vorgänge nach dem gegenständlichen Urteil, dass es wichtig ist, begleitend medial zu arbeiten, nicht nur mit den klassischen Medien, sondern auch in den sozialen Plattformen. Es geht darum, diejenigen mit sachlicher Information zu versorgen, die daran interessiert sind, Urteile zu verstehen, und nicht nur auf der allgemeinen Empörungswelle mitschwimmen wollen. Da haben wir sicher noch Handlungsbedarf.
Anwalt Aktuell: Erfreulicheres jetzt. Wie gefällt Ihnen, dass die österreichische Gerichtsbarkeit im neuesten Justizbarometer der Europäischen Gemeinschaft hinter Finnland auf Platz zwei landet, also ganz an der Spitze?
Gernot Kanduth: Es stimmt, dass die österreichische Gerichtsbarkeit seit Jahren international einen ausgezeichneten Ruf hat und sehr effizient ist. Wir sind in den letzten Jahren aber an unsere Belastungsgrenze gekommen. Es wundert mich also, dass wir dennoch diesen zweiten Platz er reicht haben. Das ist nur möglich, weil unsere Kolleginnen und Kollegen übermäßigen Einsatz betreiben, d.h. auch am Wochenende, im Urlaub und im Krankenstand arbeiten. Die zitierte Spitzenposition ist deshalb noch möglich. Das wird es aber in Zukunft nicht mehr spielen. Wir werden hier Abstriche akzeptieren müssen, weil uns allein an den Landes- und Bezirksgerichten über 200 Planstellen fehlen.
Anwalt Aktuell: Das Barometer zeigt auch, dass Österreicherinnen und Österreicher besonders gerne vor Gericht ziehen. Macht man es den Streithanseln zu leicht?
Gernot Kanduth: Ich glaube, dass es in einer intakten Demokratie und in einem funktionieren den Rechtsstaat jedem leichtgemacht werden sollte, sein Recht in Anspruch zu nehmen. Ich sehe in diesem Zusammenhang vor allem die Pflicht der Politik, dafür Ressourcen zur Verfügung zu stellen.
Anwalt Aktuell: Apropos Personalmangel: Wie weit wird mittlerweile an Österreichs Gerichten die Künstliche Intelligenz genützt? Man könnte die KI Protokolle oder Sprachübersetzungen machen lassen, oder aber auch – irgendwann später – Fehlurteile überprüfen. Wird hier konkret bereits etwas unternommen?
Gernot Kanduth: Derzeit gibt es in der Justiz einen Diskussionsprozess über Chancen und Gefahren der Künstlichen Intelligenz. Wir wissen, dass wir uns diesem Thema nicht verschließen können, sehen aber auch, dass es enorme Risiken dabei gibt. Als Hauptprobleme sehe ich einerseits den Datenschutz und andererseits die ungelöste Frage, wie die Programmierung von Algorithmen überprüft wird. Wir sind dabei, einem Zug nachzuschauen, in dem wir schon drinsitzen sollten. Es gibt allerdings einfach noch zu viele offene Fragen. Zudem kommt, dass bereits zur Verfügung stehende Programme verschiedener Anbieter im derzeitigen Sparbetrieb schwer zu finanzieren sind.
Anwalt Aktuell: Thema flächendeckende Gerechtigkeit. Das Max-Planck-Institut hat kürzlich deutschlandweit untersucht, ob es zu vergleichbaren Verfehlungen vergleichbare Urteile gibt. Ergebnis: Es gibt deutlich regionale Unterschiede in der Härte der Urteile. Ist das bei uns auch so?
Gernot Kanduth: Es fehlt mir hier eine Evidenz für Österreich. Ich gebe aber zu bedenken, dass überall Menschen sitzen, die Urteile fällen und regionale Besonderheiten mitspielen. Aus meiner Erfahrung von 23 Jahren als Richter kann ich mich auch an keinen Fall erinnern, der mit einem anderen eins zu eins vergleichbar gewesen wäre. Und schließlich gibt es ja bei Rechts fragen mit entsprechender Bedeutung auch die Leitfunktion des Obersten Gerichtshofes.
Anwalt Aktuell: Noch haben wir die geplante neue Bundesstaatsanwaltschaft nur auf dem Papier. Wie beurteilt die Richterschaft das Konzept eines Dreier-Senates?
Gernot Kanduth: Wir haben hier gemeinsam mit der Vereinigung der Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie mit der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst eine Stellungnahme abgegeben, die sich auch mit dem Ergebnis einer Experten gruppe deckt, die unter der vorigen Justizministerin eingesetzt wurde. Wir begrüßen in der Sache selbst die Einsetzung eines Dreiersenates. Wogegen wir aber, schon aus Praktikabilitätsgründen, auftreten, ist, dass dieser Dreiersenat auch die Verwaltung der Behörde überhat. Das ist dem System bei den Staatsanwaltschaften fremd. Dass ein Dreiersenat inhaltlich für Weisungen in Strafverfahren zuständig sein soll, begrüßen wir aber.
Anwalt Aktuell: Sie haben vorhin darauf hinge wiesen, dass Sie als Richterschaft zweihundert zusätzliche Planstellen brauchen. Wo werden diese eigentlich gebraucht?
Gernot Kanduth: Aufgrund steigender Fallzahlen, aber auch neuer Aufgaben ist im Laufe der letzten Jahre dieser Bedarf bei den Bezirks- und Landesgerichten entstanden. Stichworte sind hier etwa die Neuregelungen im Zusammen hang mit der Handy-Sicherstellung, der Verteidigungskostenersatz oder etwa auch der Dick-Pic-Paragraf. Dieser Bedarfstrend hat sich im heurigen Jahr fortgesetzt und – wie man hört – an den Bezirksgerichten sogar noch deutlich verstärkt. Dazu kommt der steigende Bedarf beim Bundesverwaltungsgericht aufgrund steigender Fallzahlen sowie neuer Aufgaben. Hier sehen wir auch einen zusätzlichen Planstellenbedarf im zweistelligen Bereich. Der Trend des fehlenden Personals setzt sich schließlich aufgrund insgesamt steigender Fälle auch bei den Oberlandesgerichten und beim OGH fort.
Anwalt Aktuell: Was sagen die Justizministerin und der Finanzminister dazu?
Gernot Kanduth: Wir mussten beim Doppel budget 25/26 hinnehmen, dass keine zusätzli chen Planstellen vorgesehen sind. Jetzt geht es darum, den Sparbetrieb in den nächsten einein halb Jahren so zu verwalten, dass die Auswir kungen auf die Dauer der Verfahren möglichst gering ausfallen. Deshalb müssen wir unsere Aufgaben kritisch hinterfragen. Es geht um eine Evaluierung jener Tätigkeiten, die Richterinnen und Richter derzeit verrichten. Dazu haben wir der Justizministerin einen Katalog mit Vorschlägen übermittelt, was die Gerichtsbarkeit in Österreich ernsthaft entlasten könnte, ohne dass damit rechtsstaatliche Grundsätze untergraben werden.
Anwalt Aktuell: Herr Präsident Kanduth, danke für das Gespräch.
