What goes around comes around – Die A.C.L.U. geht gegen Hassrede vor

 

 

 

 

BÜRGERLICHE FREIHEITEN SCHÜTZEN? Die American Civil Liberties Union (ACLU) wurde 1920 gegründet und verfügt über ein Budget von 300 Millionen Dollar. Mit dem Anspruch, bürgerliche Freiheiten zu schützen, vertritt sie auch Rechtsradikale, Waffenlobbyisten und Rassisten. 

Stephen M. Harnik                                                                                                                                                   

 

In Skokie, IL, einem Vorort von Chicago, waren Mitte der siebziger Jahre ca. 40.000 der 70.000 Einwohner jüdisch, was einem Bevölkerungsanteil von 57% entsprach. Darunter waren viele Überlebende des Holocaust. Chicago war zu dieser Zeit auch die Heimat einer Gruppierung namens National Socialist Party of America (NSPA), der früheren American Nazi Party.Jahrelang versuchte die NSPA in und um Chicago rassistische Demonstrationen zu veranstalten, die jedoch durch örtliche Verordnungen vereitelt wurden. Diese haben die Hassreden und militaristischen Uniformen verboten und die Genehmigung von Demonstrationen mit unerschwinglichen Versicherungsgarantien für die öffentliche Sicherheit verknüpft. In einer besonders provokanten Aktion bemühte sich die NSPA um eine Genehmigung für eine Demonstration in Skokie, die von der Gemeinde abgelehnt wurde. Die NSPA klagte und brachte den Fall bis vor den Obersten Gerichtshof. Sie argumentierte, dass die Verweigerung der Genehmigung ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit nach dem ersten Verfassungszusatz verletze. Der Fall machte nicht nur wegen des Themas Schlagzeilen, sondern auch, weil die berühmte American Civil Liberties Union(ACLU) sich bereit erklärte, die NSPA zu vertreten. Die ACLU ist eine gemeinnützige Organisation, die 1920 gegründet wurde und heute über ein Budget von 300 Millionen Dollar aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden verfügt. Ihr erklärter Auftrag ist die Verteidigung der Rechte des Einzelnen. Nationale Bekanntheit erreichte die ACLU durch ihr Wirken in Bezug auf eine Vielzahl unterschiedlicher bürgerlicher Freiheiten, wie z.B. Ablehnung der Todesstrafe, Beseitigung von Diskriminierungen im Wohnungswesen und am Arbeitsplatz, Hintanhaltung von Zensur und Demonstrationsbeschränkungen, etwa im Zusammenhang mit Polizeigewalt, militärischen Konflikten im Ausland, Widerstand gegen religiöse Unterdrückung, Folter und Aufrechterhaltung der Trennung von Kirche und Staat. Die Vertretung der NSPA durch die ACLU in der Rechtssache National Socialist Party of America vs. Village of Skokie(1977) erzürnte die Mitglieder so sehr, dass die ACLU-Mitgliedsorganisation in Illinois 25% ihrer Mitglieder und ein Drittel ihres Budgets verlor (damals war der Geschäftsführer der ACLU Aryeh Neier, ein aus Nazideutschland geflohener Jude, der Tür seine Haltung heftig kritisiert wurde). Nichtsdestotrotz gewann die ACLU den Fall, die NSPA durfte mit Hakenkreuzen und in militärischer Kleidung auftreten, und der Fall wurde zum „klassischen“ Lehrbuchbeispiel im amerikanischen Verfassungsrecht.

 

Demonstration mit Hakenkreuzen

Kürzlich gelangte der Fall Skokie deshalb wieder in den medialen Fokus, weil Ben Stern, einer der führenden Gegner der NSPA, der damals in Skokie lebte, am 28. Februar 2024 im Alter von 102 Jahren verstorben ist. Herr Stern wurde als Bendit Sztern in Warschau in eine jüdisch-orthodoxe Familie geboren. Er überlebte neun Konzentrationslager, darunter auch Auschwitz. Wie in seinem Nachruf berichtet wird, hatte der Rabbiner seiner Gemeinde in Skokie den Mitgliedern im Zusammenhang mit den NSPA Protesten geraten, sie sollten „die Fensterläden schließen, das Licht ausmachen und [die NSPA] marschieren lassen“, um ihnen eine Lektion zu erteilen, indem die Einwohner die Demonstration einfach ignorieren. Doch Stern, aufgrund seiner Erfahrungen während des Holocaust, weigerte sich, dies zu tun, und organisierte stattdessen einen Widerstand gegen die Genehmigung der Demonstration (der schlussendlich aufgrund der oben erwähnten Supreme Court Entscheidung scheiterte). Der Fall wurde verfilmt, wobei Stern von dem mit einem Oscar ausgezeichneten Schauspieler Danny Kaye gespielt wurde (der eigentlich für seine komödiantischen Rollen bekannt ist, aber in diesem Fall die sehr ernste Hauptrolle spielte). 

 

An der Seite der Waffenlobby

Noch aktueller geriet die ACLU in einem weiteren Fall in die Schlagzeilen, in dem ihre Vertretung im Widerspruch zu ihrem Auftrag zu stehen schien. Am 18. März 2024 schritt sie vor dem Obersten Gerichtshof im Fall National Rifle Accociation v. Vullo ein. In diesem Fall machte die NRA geltend, dass ihr Recht auf freie Meinungsäußerung von der New Yorker Superintendentin des Department of Financial Services (DFS) verletzt worden sei, als sie Versicherungsunternehmen aufforderte, ihre Verbindungen zur NRA zu kappen. Die DFS Superintendentin beaufsichtigt 1400 Versicherungsgesellschaften mit einem Vermögen von 4,3 Billionen Dollar und mehr als 1900 Finanzinstitute mit einem Vermögen von über 2,9 Billionen Dollar. Sie kann Lizenzen erteilen oder verweigern, Untersuchungen einleiten, Geldstrafen verhängen, Aufsichtspersonen ernennen und Angelegenheiten zur Strafverfolgung weiterleiten.

Vor der Einleitung des Verfahrens hatte die Aufsichtsbehörde gegen

ein bestimmtes Versicherungsunternehmen eine Geldstrafe in Höhe von 7 Mio. USD verhängt, weil es „Carry Guard“-Versicherungen angeboten hatte, die in New York illegal sind. Gegen zwei weitere Unternehmen wurden Geldstrafen verhängt, weil sie im Namen der NRA in New York für Versicherungsgeschäfte geworben hatten. Die „Carry Guard“-Versicherung deckt das Haftungsrisiko (einschließlich Kosten der Strafverfolgung) von Waffenbesitzern im Zusammenhang mit dem absichtlichen (auch notwehrmäßigen) Gebrauch ihrer Schusswaffe ab. Der Staat New York verbietet die Carry-Guard-Versicherung, damit Waffenbesitzer sich nicht auf den finanziellen Schutz verlassen, wenn ihre Waffen in einer Massenschießerei – sei es auch durch einen Dritten – verwendet werden. Ausgelöst durch den Amoklauf an der Parkland High School in Florida, bei dem 17 Schüler und Angestellte getötet wurden, gab die DFS formelle Anleitungsschreiben und eine Pressemitteilung heraus, in denen sie alle Banken und Versicherungsgesellschaften in New York aufforderte, ihre Verbindungen zur NRA zu lösen. Sie versprach den Versicherungsunternehmen Nachsicht bei der Rechtsdurchsetzung und Zurückziehung von Geldstrafen in Höhe von mehreren Millionen Dollar, wenn diese Unternehmen ihre Geschäfte mit der NRA einstellen würden. Diese Drohungen zeigten Wirkung, und zahlreiche Banken und Versicherungsgesellschaften weigerten sich, mit der NRA zusammenzuarbeiten, weil sie befürchteten, die DFS würde gegen sie vorgehen. Die NRA klagte die DFS unter Berufung auf das Urteil des Obersten Gerichtshofs in der Rechtssache Bantam Books v. Sullivan (1963), wonach informelle, indirekte staatliche Maßnahmen zur Unterdrückung oder Bestrafung von Meinungsäußerungen durch die Bedrohung privater Mittelsmänner gegen den ersten Verfassungszusatz verstoßen. Das Berufungsgericht wies den Fall mit der Begründung ab, dass die Briefe der DFS lediglich das New Yorker Recht wiederholten und eine zulässige „hoheitliche Äußerung“ darstellten. Die NRA habe „nicht plausibel

dargelegt, dass Vullo die Grenze zwischen Überzeugungsversuchen und Nötigung überschritten hat“, so das Gericht.

Die ACLU hingegen argumentierte, dass es in dem Fall um „eine Kampagne der höchsten politischen Beamten des Staates geht, die ihre Macht nutzen, um einen Boykott einer politischen Organisation zu erzwingen, weil sie mit deren Haltungen nicht einverstanden sind“. Sie sagte, dass die Leitbriefe der NRA ein Brandzeichen in Bezug auf deren Stellung gegenüber jeder Bank und Versicherungsgesellschaft in New York auferlegten (wie man auf Englisch sagt „A scarlet letter“).

Auf ihrer Website verteidigte die ACLU ihre Vertretung der NRA mit den Worten: “(s)ome may have wondered why the ACLU was representing the NRA, since the ACLU clearly opposes the NRA on gun control and tSe role of firearmc in cociety. TSe SrinciSal iccue at ctake in tSic case is one in which the ACLU deeply believes: preventing government blacklists of advocacy groups. Indeed, the timing couldn’t be better for drawing a bright line that would help bind a future Trump administration and otSer government officialc wSo micuce tSeir Sower. And if New York can do this to the NRA, Texas or Florida could use the same tactics against groups advocating immigrants’ rights or the right to abortion.” 

 

 

 

 

 

Die ACLU behauptet, dass die Bill of Rights Personen schützt, die die US-Flagge als eine Form der Meinungsäußerung verbrennen.

 

„Feindseliges Verhaltensmuster“

Und nun gibt es wieder einen Fall, der auf den ersten Blick alles auf den Kopf zu stellen scheint, wofür die ACLU steht. In dieser Klage, die vom National Labor Relations Board (NLRB) gegen die ACLU eingebracht wurde, geht es um die Entlassung einer ehemaligen leitenden Beraterin der ACLU, Katherine Oh, eine koreanisch-amerikanische Juristin, wegen Ungehorsams gegenüber Vorgesetzten und angeblichem feindseligen Verhaltensmuster gegenüber zwei schwarzen Männern. Ronnie New- man, ihr früherer Chef, der als politischer Direktor der ACLU der ranghöchste Schwarze in der Organisation war, hatte die ACLU aufgrund der Beschwerden von Oh und drei weiterer Mitarbeiter wegen Mobbings, sexueller Diskriminierung und Frauenfeindlichkeit verlassen. Nach seinem Weggang scherzte Oh bei einem Organisationstreffen, dass“…the beatings will continue until morale improves.” Mitarbeiter, die an der Sitzung teilnahmen, waren über diese Darstellung schockiert. Der (ebenfalls schwarze) leitende Beauftragte für Gleichberechtigung und Integration der ACLU intervenierte mit folgenden Worten: „…metaphorical, the insinuation that Ronnie Newman physically assaulted you or anyone, for that matter, is dangerous and damaging. On a personal note, I invite you to consider how that characterization may be experienced by black staff specifically. I understand tSat you are being hyperbolic for effect, but please consider the very real impact of that kind of violent language in the workplace.“ Oh räumte daraufhin ein, dass ihre Äußerungen zu „harmful anti-black racist stereotypes about black men“ beitrugen, und entschuldigte sich dafür. Später teilte sie jedoch ihrem unmittelbaren Vorgesetzten Ben Needham, der ebenfalls schwarz ist, mit, dass sie Angst habe, bestimmte Probleme mit ihm anzusprechen. Er beschwerte sich daraufhin bei der Personalabteilung, dass die Bemerkung von Oh auf ein rassistisches Klischee hinauslaufe, bei dem es um die Angst vor schwarzen Männern gehe. Er schrieb: „as a black male, language like ,afraid’ generally is a code word for me. It’s triggering me.” Gleichzeitig teilte Need- ham ihr jedoch mit, dass er mit Newman befreundet gewesen sei und keine Beschwerden über ihn hören wolle.

Schließlich schrieb Oh während einer Zoom-Sitzung mit der Organisation gleichzeitig auf Twitter, dass sie „physically repulsed“ wäre "having to work for „incompetent/abusive bosses.“ Daraufhin wurde sie entlassen.

Oh ficht ihre kündigung an und behauptet, dass nichts, was sie gesagt oder getan hat, rassistisch war. Sie hätte sich genauso gut über weiße CheTs beschweren können, die schlecht seien, und aufjeden Fall habe sie sich als Arbeitnehmerin, die sich zuvor mit anderen Kollegen über die Arbeitsbedingungen beschwert hatte, lediglich an einer rechtlich als “protected concerted activity” bezeichneten Maßnahme beteiligt. „The public nature of her speech doesn’t deprive it of N.L.R.A. protection,“, meinte Charlotte Garden, Rechtsprofessorin an der Universität von Minnesota, und bezog sich dabei auf den National Labor Relations Act über die Rechte der Arbeitnehmer. Garden fügte hinzu, dass die Beweislast bei der NLRB liegt, die das Gericht davon überzeugen müsse, dass Oh‘s Social-Media-Post und ihre anderen Kommentare Teil eines Musters von Meinungsäußerungen am Arbeitsplatz und somit protected speech wären. Laut NY Times, die über diesen ungewöhnlichen Fall berichtet hat, argumentierte die ACLU, dass sie das Recht hat, einen zivilen Umgang am Arbeitsplatz aufrechtzuerhalten, ebenso wie Oh das Recht hat, ihre Meinung zu äußern. Und sie ist nicht von ihrer Behauptung abgerückt, dass Oh‘s Ausdrucksweise schwarze Kollegen geschädigt hat, auch wenn die Worte nicht ausdrücklich rassistisch waren. Man darf gespannt sein, wie der Oberste Gerichtshof über die Anfechtung des DFS-Anleitungschreibens durch die NRA entscheiden und ob die Entlassung von Katherine Oh als ungerechtfertigt angesehen wird.