ENDE DES RECHTSSTAATES. Mit welchen Methoden in den Dreißigerjahren des vergangenen Jahrhunderts die liberalen Persönlichkeitsrechte abgeschafft wurden dokumentiert das Buch einer österreichischen Rechts-Philosophin. Die Lektüre lohnt sich, insbesondere mit aufmerksamem Blick auf aktuell gefährdete Rechtssysteme weltweit.
Herlinde Pauer-Studer, Univ.-Prof. emer., Institut für Philosophie,
Universität Wien. 2023: Alexander v. Humboldt Forschungspreis;
2024/25: Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin.
Anwalt Aktuell: Hitler ist auf demokratischem Weg an die Staatsführung gelangt. Gab es in der Folge, als er mit seiner sogenannten „legalen Revolution“ das Rechtssystem umzubauen begann, Widerstand?
Herlinde Pauer-Studer: Juristen, die dagegen waren, mussten recht bald schon emigrieren und wurden durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933 von den Universitäten verbannt. Durch die Vertreibung aller jüdischen Universitätslehrer verstummte eine der wesentlichen Stimmen des Widerstands im juristischen Bereich. Unter anderem wurde auch Hans Kelsen von der Universität in Köln entfernt.
Anwalt Aktuell: Wer waren die Akteure, die die liberale Weimarer Verfassung zu einer nationalsozialistischen umgebaut haben?
Herlinde Pauer-Studer: Die Weimarer Verfassung wurde rein formal nie aufgehoben, de facto jedoch übergangen. Die entscheidenden Schritte kamen vom Regime selbst. Da wurde nicht eine Kommission eingesetzt, man hat einfach Fakten geschaffen, die längst vorausgedacht waren. Willfährige Juristen waren dazu da, quasi den juristischen Begleittext zu den politischen Vorgaben zu schaffen. Namen dafür sind etwa Carl Schmitt oder Ernst Rudolf Huber. Hitler selbst hielt von Juristen wenig, er sah in ihnen die potentielle Gefahr, im Amt eingeschränkt zu werden.
Anwalt Aktuell: Welche Kernbereiche des Rechts wurden im Sinne des Nationalsozialismus verändert?
Herlinde Pauer-Studer: Im Wesentlichen sind es zwei Bereiche. Der eine ist die in der Rassengesetzgebung umgesetzte Rassenideologie. Indirekt damit verknüpft war das Strafrecht. Chefjurist der Nationalsozialisten war Hans Frank. Er hatte schon sehr früh die Idee, den Staat im Sinne eines nationalsozialistischen Rechts umzudeuten. Als zweiter Chefideologe wirkte Roland Freisler als Staatssekretär im Justizministerium. Justizminister Franz Gürtner, ein bayerischer Konservativer, aber kein Parteimitglied, hat sofort die Gefahr gesehen und suchte bei Hitler um die Einrichtung einer amtlichen Strafrechtskommission an, um dem Einfluss der Parteiideologen Grenzen zu setzen. Insgesamt spielte Gürtner eine tragische Rolle. Er hat immer nachgegeben. Die tatsächlich dann durchgeführte Strafrechtsänderung setzte auf maxi male Abschreckung nach dem Grundsatz „kein Verbrechen ohne Strafe“, im Gegensatz zu dem Prinzip, dass strafbar nur eine vom Gesetz als Delikt definierte Handlung war (nulla poena sine lege). Die Diskussion zu dieser Zeit kreiste um die Frage „Sollen wir ein Gesinnungsstrafrecht oder ein Täterstrafrecht einführen?“ Hier zeigte sich aber, dass sich das Recht qua Struktur gegen eine völlige Vereinnahmung sträubt. Selbst NS Juristen sahen, dass das Konzept des Gesinnungsstrafrechts nicht durchsetzbar war. Man entwickelte stattdessen ein Willensstrafrecht. Der Wille des Täters sollte strafbar und Vergeltung im Sinne der Wahrung der Volksgemeinschaft legitim sein. Die Verbindung des Willensstrafrechts zum objektiven Tatbestand war eine Tätertypologie. Dabei wurde unterstellt, dass der böse Wille des Verbrechers schon aus seinem Erscheinungsbild erschließbar sei. Das verursachte eine extreme Radikalisierung unter den Kriegsbedingungen. Im Hintergrund war diese Vorstellung auch mit der Rassenideologie verbunden.
Anwalt Aktuell: Mit welchen Argumenten wurde der Schutz des Individuums, wie ihn der liberale Rechtsstaat vorsieht, abgeschafft und die sogenannte „Volksgemeinschaft“ als übergeordnetes Prinzip eingeführt?
Herlinde Pauer-Studer: Es gab im Nationalsozialismus zwei Rechtsquellen: das Führerprinzip und jenes der Volksgemeinschaft. Die Kombination dieser beiden Elemente war notwendig, um die tatsächlich bestehende Diktatur des Führers zu verschleiern. Der Angriff auf den liberalen Rechtsstaat und die liberalen individuellen Rechte wurde damit gerechtfertigt, dass es diese Rechte im Führerstaat nicht mehr brauche, da der Gegensatz Staat – Individuum aufgehoben sei. Dem Führer könne man im Sinne seines Wissens um das Wohl der Volksgemeinschaft vertrauen. Individualrechte als Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat wurden explizit beseitigt.
Anwalt Aktuell: In einem Rechtssystem gibt es naturgemäß immer sehr viele verschiedene Akteure. Auf der einen Seite die Rechtswissenschaft, auf der anderen Seite Gerichte mit Staatsanwälten und Richtern, dann auch Rechtsanwälte und die Exekutive selbst. Wie konnte es geschehen, dass das Rechtssystem insgesamt so markant in eine andere Richtung transformiert wurde?
Herlinde Pauer-Studer: Man muss die Rahmenbedingungen sehen. Der NS-Staat war ein totalitäres System, das selbst vor Mord nicht zu rückscheute. Interessant ist aber, dass das Regime den juridischen Bereich nicht komplett in den Griff bekam. Anzeichen dafür sind die sogenannten „Richterbriefe“, die 1942 verschickt wurden. Diese Briefe schildern nämlich, wie Gerichte gewisse Fälle entschieden hatten und wie sie richtigerweise nach nationalsozialistischer Ideologie hätten entschieden werden sollen. Die Richter fragten sich, was das für sie zu bedeuten hätte. Die Auskunft lautete: Der Nationalsozialismus stehe zur Unabhängigkeit der Richter. Allerdings sagte Hitler dann 1942, dass er in Urteile eingreifen werde, die nicht im Sinne des Nationalsozialismus seien. Es gab darauf vehemente Proteste bis hin zu Hans Frank, dem daraufhin sämtliche juristischen Funktionen entzogen wurden, zum Beispiel die Präsidentschaft der Akademie für Deutsches Recht. Allgemein wussten die Richter, dass es ein hohes Risiko war, Fälle ent gegen den nationalsozialistischen Vorgaben zu entscheiden. Schon sehr früh wartete die Gestapo vor den Gerichtssälen, um freigespro chene Angeklagte festzunehmen und ins Gefängnis einzuliefern.