Zollrecht in der philosophischen Krise?

 

 

PHILOSOPHIE. In Wien, einer Stadt, die für Ludwig Wittgenstein, Karl Popper, Martin Buber und Kaffeehausdebatten über den Sinn des Lebens bekannt ist, ist Metaphysik kein Fremdwort. Aber nur wenige würden erwarten, dass so abstrakte Fragen wie „Was macht eine Sache zu einer Sache?“ heute im Zent rum des amerikanischen Handelsrechts stehen. Doch genau dort befindet sich die USA im Jahr 2025: in einer philosophisch anmutenden Debatte mit mittlerweile extremen zollpolitischen Auswirkungen.

Stephen M. Harnik, Esq., New York                                                                                                             

 

 

Im Mittelpunkt dieser Debatte steht der scheinbar einfache Be griff „country of origin“, das US-Äquivalent zum Begriff des Ursprungslandes. Auch in den USA müssen importierte Waren mit einer Kennzeichnung versehen sein, die ihren Ursprung angibt, z. B. „Made in China“ oder „Product of Mexico“. Diese Kennzeichnungen bilden die Grundlage für die anwendbaren Zollsätze, welche im aktuellen geopolitischen Klima zwischen 0% und über 145% liegen können, je nachdem, welches Ursprungsland einer Ware zugeschrieben wird. Angesichts globaler Lieferketten, die sich wie ein Spinnennetz über Kontinente erstrecken, ist die Frage, woher eine Ware „stammt“ natürlich nicht mehr so einfach zu beantworten und lässt einigen Interpretationsspielraum. Die US-Maßfigur der „wesentlichen Veränderung“, bekannt als „substantial transformation test“, bietet weit weniger Klarheit, als man sich wünschen würde.

 

Name, Charakter und Verwendung

Der Test der wesentlichen Veränderung geht auf den Fall Anheuser-Busch Brewing Ass‘n v. United States (207 U.S. 556) aus dem Jahr 1908 zurück, in dem es um aus Spanien importierte Korken ging. Der Importeur hatte die Korken in den Vereinigten Staaten gereinigt und gestempelt und argumentierte, dass diese Verfahren die Artikel in ein neues Produkt verwandelt hätten. Der Gerichtshof war anderer Meinung und entschied, dass solche minimalen Änderungen die wesentliche Identität der Korken nicht veränderten. Das Produkt blieb das, was es immer gewesen war: Kork. So entstand der heute (für Zollrechtler) bekannte Test: Das Ursprungsland einer Ware ist der letzte Ort, an dem sie eine Umwandlung erfahren hat, die zu einer neuen Bezeichnung, einem neuen Charakter oder einer neuen Verwendung geführt hat (the last place where it underwent a transformation resulting in a new name, character, or use). Der Test mag auf den ersten Blick sehr konkret klingen. In der Anwendung zeigt sich aber, dass das tatsächlich nicht der Fall ist, sondern dieser im Laufe des letzten Jahrhunderts sehr verschieden ausgelegt wurde. Bei Haarbürsten wurde im Fall United States v. Gibson-Thomsen, Co., (Court of Customs and Appeals 1939) das Hinzufügen von Borsten zu einem japanischen Holzgriff in den USA als umwandelnd angesehen. Dagegen befand das Gericht im Fall Energizer Battery, Inc. v. United States, 190 F. Supp. 3d 1308 (2016), dass der Zusammenbau von Batterien in den USA keine Änderung der Bezeichnung, der Beschaffenheit oder der Verwendung darstellte, weil die Endverwendung der anderswo gefertigten Batteriekomponenten bereits vorbestimmt war. Bei Schuhen in Uniroyal, Inc. v. United States, 3 CIT 220, 542 F. Supp. 1026 (1982), bestätigt durch 702 F.2d 1022 (Fed. Cir. 1983) wurde das Hinzufügen von Sohlen zu importierten Oberteilen als nicht transformativ angesehen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Kurzum, die Bestimmung des zollrelevanten Ursprungslandes kann Hersteller bzw. Importeure vor Unwägbarkeiten stellen und die Frage der wesentlichen Änderungen wird zuweilen auf die Gerichte übertragen, die dann das „Wesen” einer Ware ermitteln.

 

Das Dilemma mit den Haftnotizen

Betrachten wir eine aktuelle Zollentscheidung zu Haftnotizzetteln. Ein US-Importeur bezog Papier aus Japan und Indonesien, Kleb stoff aus Taiwan und schickte dann sowohl Papier als auch Kleb stoff zur Endmontage nach China. Man würde wohl meinen, dass das charakteristische Merkmal eines solchen Produkts dessen Klebekraft ist. Diese Eigenschaft wurde eindeutig in China hinzugefügt, dennoch kam die Zollbehörde zu dem Schluss, dass die Haftnotizen ein Produkt aus Japan oder Indonesien seien, da Papier und nicht der Klebstoff als „wesentlicher Charakter” angesehen wurde. Durch diese Entscheidung konnten die Zölle der Trump-Ära auf chinesische Waren vermieden und dem Importeur Millionen ein gespart werden. Sie verdeutlichte jedoch auch, wie unklar die Dok trin der wesentlichen Veränderung geworden ist. Ab wann wird Papier zu etwas anderem? Wann ist ein Holzgriff mit Borsten eine Bürste? US-Handelsanwälte und Bundesgerichte sind daher oft gezwungen, aus kasuistischen Einzelentscheidungen philosophisch wirkende Unterscheidungen zu treffen, um die Transformation einer Sache oder das Gegenteil zu begründen. Solche Diskussionen würde man doch eher im (Wiener) Philosophencafé als vor einem US-Gericht vermuten.

 

Keine Liste, sondern eine Entscheidung

Für die Klassifizierung von Waren ist die Customs and Border Protection („CBP“) Behörde zuständig. Diese erstellt basierend auf dem internationalen Harmonized System den Harmonized Tariff Schedule (HTS), einen strukturierten Klassifizierungsleitfaden, der Produktkategorien umreißt. Die genaue Zuordnung bestimmter Artikel ist jedoch weniger detailliert als beispielsweise in der EU und erfordert mehr an Auslegung und Beurteilung durch den Importeur. Der Importeur ist für die Bestimmung der korrekten HTS-Klassifizierung von Waren verantwortlich. So muss auch das Ursprungsland vom Importeur angegeben werden, und es ist dessen Sache, seine Angaben zu begründen. Damit liegt die Last und Unsicherheit der Klassifizierung bei den Unternehmen, die ohnehin schon mit undurchsichtigen und sich ständig ändernden Lieferketten zu kämpfen haben. Die Unklarheit beschränkt sich nicht nur auf die Theorie. Als die erste Trump-Regierung bereits 2018 umfassende Zölle auf Waren aus China er hob, bemühten sich Importeure, ihre Abläufe neu zu organisieren. Produkte, die zuvor in China montiert wurden, wurden über Malaysia, Vietnam oder andere Länder umgeleitet. Die Verlagerung des Montageortes ändert jedoch wie schon oben erwähnt in den Augen der Behörde nicht unbedingt den Ursprung. So kann ein in Vietnam gefertigter Laptop mit einer chinesischen Hauptplatine immer noch als chinesisch gelten, wenn diese Komponente als „Kernstück” angesehen wird.

 

Vorhersehbar unvorhersehbar

Warum hält die USA an diesem unklaren Rahmen fest? Zum Teil wegen seiner Flexibilität. Im Gegensatz zu vielen Freihandelsabkommen der USA, die detaillierte, produktspezifische Ursprungsregeln auf der Grundlage von Tarifänderungsregeln und regionalem Wertanteil enthalten, gilt der Test der wesentlichen Veränderung allgemein, ohne dass detaillierte Buchhaltungsunterlagen oder chemische Analysen erforderlich wären. Diese Flexibilität geht jedoch zu Lasten der Vorhersehbarkeit. Was als „wesentlich“ gilt, kann von Hafen zu Hafen variieren oder sich sogar je nach politischen Prioritäten ändern. Da Zölle gerade zu einem beliebten Instrument der Außenpolitik werden, das nicht nur zum Schutz der heimischen Industrie, sondern auch zur Bestrafung von Konkurrenten eingesetzt wird, gewinnt die Ursprungslandprüfung an Bedeutung und wird zunehmend umstritten.

 

Fazit: Von Wittgenstein zur Fracht

Bis der Kongress oder die Gerichte die Doktrin der wesentlichen Veränderung überarbeiten oder die Zollbehörden klarere Vorschriften er lassen, werden US-Importeure hinsichtlich ihrer Waren weiterhin quasi Wittgenstein'sche Identifikationskrisen hinnehmen müssen und in einer Welt agieren, in der die philosophische Betrachtung eines Haftnotizzettels oder eines Turnschuhs über den Erfolg oder Misserfolg einer globalen Lieferkette entscheiden kann.

P.S.: Ich bin von Natur aus skeptisch gegenüber KI, aber ich muss ihr hier eines zugutehalten: Nachdem ich diesen Artikel geschrieben hatte, habe ich ihn durch ChatGPT laufen lassen, was mich auf die Idee gebracht hat, Wittgenstein et al einzubauen! Aktualisierung zu meinem Brief vom Februar 2025: Am 5. Juni 2025 entschied der Supreme Court in der Rechtssache Smith & Wesson Brands, Inc. v. Estados Unidos Mexicanos ein stimmig (9:0), dass die Klage Mexikos gegen Smith & Wesson und andere US-Waffenhersteller durch den Protection of Lawful Commerce in Arms Act (PLCAA) ausgeschlossen ist, da die Klage nicht plausibel darlegen konnte, dass die Unternehmen als Beitragstäter den illegalen Waffenhandel gefördert („aided and abetted”) haben. Justice Elena Kagan verfasste die Entscheidung, in der sie betonte, dass der Kongress mit dem PLCAA beabsichtigte, solche Missbrauchsansprüche Dritter zu blockieren.