DIE DRÜCKEBERGER. Während der öffentliche und private Diskurs der deutschsprachigen Nachbarländer von „Tacheles“ geprägt ist, herrscht in Österreich die Tugend der Feigheit. Wenn schon Tapferkeit, dann in den sozialen Medien, und dann getarnt mit einem Fantasienamen. Das „offene Wort“ scheut man wie das sprichwörtliche Weihwasser. Unangenehme Gespräche oder schwierige Vertragskündigungen werden „ausgelagert“. Die Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner hat ein schmales Buch mit vielen peinlichen Wahrheiten zum Thema „Feigheit“ geschrieben.
Man kann vermuten, dass die renommierte Gerichtspsychiaterin in ihrem Berufsleben derart viele Lügen aus Feigheit anhören hat müssen, dass ihr irgendwann der Kragen platzte, sie sich zum Schreib tisch setzte und den Frust von der Seele schrieb. Es ist gleichermaßen wohltuend wie erschreckend, dass die Feigheit als Haltungsfehler praktisch sämtliche Lebensbereiche zu durchziehen scheint. Von der mangelnden Zivilcourage über per SMS beendete Beziehungen bis zu Verbrechen, die nicht eingestanden werden…Von politischer Korrektheit über Toleranz als Kapitulation bis zur Feigheit in der Politik… Und dann natürlich das alte Tarnen und Täuschen zwischen den Geschlechtern! Heidi Kastner zeichnet ein erschreckendes Panoptikum des Wegduckens und Leugnens. Wäre das Werk umfangreicher und die vielen wichtigen Themen breiter ausgeführt könnte die Autorin die Nachfolge ihres Berufskollegen Erwin Ringel antreten. Denn die in „Feigheit“ beschriebenen Fälle haben sehr viel mit der „österreichischen Seele“ zu tun.
Wozu denn Ehr- und Schamgefühl?
Mit den Leuten, die Feigheit für eine legitime Konfliktvermeidungsstrategie halten, kann Kastner nichts anfangen. Sie hält sich da lieber an die knallharte Definition: "Feigheit oder auch Memmenhaftigkeit (abgeleitet von ‚mamma‘, dem lateinischen Wort für Mutterbrust) als ein Wesenszug verweichlichter Menschen, die eben zu lange an der Mutterbrust gehangen und nie gelernt hatten, für sich oder für andere einzustehen, wurde immer negativ bewertet und mit mangeln dem Ehr- und Schamgefühl verbunden.“ Dass Feigheit ein wesentlicher Begriff der jeweiligen gesellschaftlichen Herrschaftssprache ist, arbeitet die Autorin an Hand mehrerer Geschichtsphasen heraus – von Stalin über Hitler bis zum Vietnam krieg. Wenn nicht gerade Hochkonjunktur der Manipulation herrscht, sieht Kastner den Begriff Feigheit als Bestandteil einer allgemeinen ethischen Diskussion: „Klar wird jedenfalls, dass die negative Bewertung der Feigheit sehr viel mit moralischer Wertung zu tun hat und dass Feigheit heute hauptsächlich als mangelndes Moralempfinden und Untugend gesehen wird. Der Schriftsteller Ambrose Bierce, für den der amerikanische Bürgerkrieg das prägende Lebensereignis war, nannte in seinem ‚Wörterbuch des Teufels‘ einen Feigling ‚einen Mann, der mit den Beinen denkt‘, der sich wegduckt, Konfrontationen aus dem Weg geht oder sich in Lügen und Ausreden flüchtet, also einen Getriebenen, der nie zur Ruhe kommen kann und immer auf der Hut sein muss.“
Der Wahrheit aus dem Weg gehen
Wo Geschwurbel herrscht, hat die Wahrheit keine Chance. Die Gerichtspsychiaterin leuchtet auch ins Private: „Beziehungen stagnieren auf dem Niveau unausgesprochener Unklarheiten.“ Sich an dieser Stelle nicht „erwischt“ zu fühlen sollte den meisten Leserinnen und Lesern schwerfallen. Es ist ein schwacher Trost, dass Frauen bei der Beendigung von Beziehungen per SMS das unangefochten stärkere Geschlecht sind. Apropos Frauen, und Männer: Den „Fall Pelicot“ in Frankreich sieht Kastner als ein „Verbrechen als Folge persönlicher Feigheit, ein markantes Scheitern im Leben einzugestehen.“ Denn: Nur wenige der Angeklagten waren „Manns“ genug, ihre Schuld ein zugestehen: „Der gemeinsame Nenner ist das Bestreben, sich unerwünschte, aber realistische und oft selbst verschuldete Konsequenzen zu ersparen und die Folgen eigenen Fehlverhaltens nicht ertragen zu müssen, also sich feige aus der Verantwortung zu drücken.“ Die Autorin fixiert diese Charakterschwäche mit einem Zitat von Montaigne: „Die Feigheit ist unauslöschlich; wer einmal mit diesem Makel behaftet ist, ist es für immer.“
Dann wird’s politisch
Über weite Strecken des (kurzen) Buches wundert man sich, warum die Autorin als Widmung an den Anfang stellt: „Für den Verlag, der nicht zu feige war, dieses Buch herauszubringen.“ Vieles liest sich zwar schmerzhaft, weil man jeden Tag mit Leuten zu tun hat, die herumeiern und der Wahrheit weiträumig aus dem Weg gehen. Wer hätte nicht schon persönlich erlebt, eine unangenehme Information über sieben Ecken als „stille Post“ zu erhalten. Es verstößt in Öster reich auch nicht gegen „Usancen“, dass man eine jahrelange Zusam menarbeit mit dem Brief einer Sekretärin beenden lässt, statt sich selbst ans Telefon zu setzen und die Gründe darzulegen. Heidi Kastner verlässt gegen Ende des Buches die Ebene der „lässlichen“ Feigheits-Sünden und greift beherzt ins Politische, wo sie anprangert, dass die offensichtlichen Probleme der Migration in Schule und Kriminalität verniedlicht oder verschwiegen werden: „Die Feigheit, unerfreuliche Sachverhalte nicht anzusprechen, zu umschiffen und gefühlt zu ignorieren, sei es, weil man nicht bereit ist, seine eigene realitätsfremde Ideologie zu hinterfragen, sei es, weil es – wie so oft – keine einfachen und schnell umsetzbaren Lösungen gibt und manche Probleme auf Versäumnissen und Ignoranz in der Vergangenheit beruhen, die man nicht eingestehen will, treibt Menschen in die Arme von radikal populistischen Gruppierungen, die sich mit brutalen Formulierungen und billigen Rezepten als ‚mutige Realisten‘ präsentieren und noch dazu nicht zurückscheuen, auf alle Forderungen von Anstand zu pfeifen.“ Keine leichte Kost auch, was Heidi Kastner zur Feigheit der sich lebenslänglich unterordnenden Frau schreibt: „Da wird dann nicht wahrgenommen oder bewusst ignoriert, dass Kinder längere Zeit vom Partner missbraucht werden, dass Kinder laufend misshandelt werden und die eigene Familie alles andere als ein sicherer Ort ist. Trennung würde ja Selbständigkeit erfordern, und wenn ich mir das nicht zutrauen oder auch zumuten will, dann müssen eben andere den Preis dafür zahlen.“ Also feige ist das Buch sicher nicht.