„Eine Pauschalverurteilung ist geradezu das Gegenteil von Kritik“

 

 

 

 

 

HÖCHSTGERICHT. Seit Jahresbeginn leitet Georg Kodek den Obersten Gerichtshof.

Im Gespräch mit ANWALT AKTUELL kündigt er eine Intensivierung der Medienarbeit an, bedauert die Zunahme unqualifizierter Kritik an Gerichtsentscheidungen und warnt vor Anlassgesetzgebung beispielsweise zur Strafmündigkeit bei Jugendlichen. Er kann sich auch vorstellen, dass man das Medienrecht vom Strafrecht zum Zivilrecht übersiedelt.
Georg Kodek                                                                                                                                         

 

Georg Kodek: Ich übernehme glücklicherweise ein wohlgeordnetes Haus. Der OGH arbeitet insgesamt hervorragend und im Vergleich mit den Institutionen anderer Länder geradezu rekordverdächtig. Verbesserungsmöglichkeiten sehe ich daher nur in Teilbereichen, und zwar nicht im inhaltlichen Bereich – hier kann und will ich nicht Einfluss nehmen, ich habe hier nur eine Stimme wie alle anderen Richterinnen und Richter – sondern in einzelnen administrativen Abläufen, wo ich noch ein gewisses Beschleunigungspotential sehe. Ziel wäre, dass die Entscheidung bei den Parteien des Verfahrens eine Spur früher ankommt und daher auch eine Spur früher im RIS aufgenommen werden kann.

 

Anwalt Aktuell: Ihre Vorgängerinnen Griss und Lovrek bzw. Vorgänger Ratz haben den OGH auf ihre Weise sehr verschieden geführt. Haben Sie Ihren eigenen Führungsstil schon in Planung?

 

Georg Kodek: Ich habe insgesamt ungefähr vierzig Vorgängerinnen und Vorgänger, wenn man bis in die Zeit der Monarchie zurückzählt. Ich kenne naturgemäß nicht alle persönlich. Natürlich sind alle Menschen verschieden und haben einen eigenen Stil. Ich glaube allerdings, dass eine Selbstbeschreibung hier nicht sinnvoll und aussagekräftig ist. Es kommt eher darauf an, wie es von anderen wahrgenommen wird. Jede Zeit bringt ihre eigenen Herausforderungen. Meine Aufgabe ist hier, durch die Justizverwaltung unterstützend zu wirken. Ich sehe meine Rolle nicht darin, anderen meine Lehrpositionen aufzuzwingen, sondern zu ermöglichen, dass die Richterinnen und Richter des Hauses ihre Arbeit gut machen können. Wichtig sind mir ein wertschätzendes Klima und auch Transparenz im Haus.

 

Anwalt Aktuell: Teilen Sie meinen Eindruck, dass der OGH eine große Zahl wichtiger und folgenreicher Entscheidungen fällt, mit diesen aber bei Weitem nicht so oft in die Medien kommt wie beispielsweise der VfGH?

 

Georg Kodek: Ich würde diese Einschätzung absolut teilen. Es ist leider so, dass die Medien an normalen zivilrechtlichen Verfahren so gut wie überhaupt kein Interesse haben und im Strafrechtsbereich nur an einzelnen, außergewöhnlichen Fällen. Das ist bedauerlich, weil letztlich die Information der Bürgerinnen und Bürger ganz wichtig ist, um so ein Grundverständnis für die Institutionen unseres Staates zu entwickeln. Das kann ich natürlich nicht ändern, was das Interesse der Medien betrifft. Was ich allerdings ändern möchte, ist, dass ich eine etwas proaktivere Informationspolitik betreiben möchte.

 

Anwalt Aktuell: Wie beurteilen Sie grundsätzlich die in den letzten Jahren entstandene Praxis, Entscheidungen der Gerichte speziell seitens der Politik in Frage zu stellen?

 

Georg Kodek: Kritik von Entscheidungen ist grundsätzlich zulässig und wichtig. Voraussetzung dafür ist allerdings eine gewisse Sachorientierung. Eine Pauschalverurteilung ist geradezu das Gegenteil von Kritik. Bei einer angriffigen Pauschalverurteilung leidet letztlich der Ruf der Justiz insgesamt. Das bleibt hängen bei den Bürgerinnen und Bürgern, die mit unserem Rechtssystem nicht näher vertraut sind. Das ist natürlich bedauerlich. Hier kann man nur punktuell durch eine proaktivere Informationspolitik gegensteuern.

 

Anwalt Aktuell: Wie finden Sie ec im Eontext der Demokratie, dass diese Attacken immer wieder aus der Politik kommen?

 

Georg Kodek: Ja, das ist bedauerlich, weil hier aufgrund eines kurzfristigen taktischen Interesses im Zusammenhang mit einem Einzelfall das Vertrauen der Allgemeinheit in die Institutionen insgesamt unterminiert wird. Ich möchte bewusst keine Beispiele aus der österreichischen Diskussion bringen, aber wenn wir nach Amerika schauen, wurde beispielsweise eines der Erkenntnisse des Supreme Court von hochrangigen Politikern als „parteiliches Erkenntnis parteilicher Richter“ und als „undemokratischer Angriff auf amerikanische Werte” bezeichnet. Das ist ein Beispiel für eine nicht sachliche Diskussion durch bloße Pauschalangriffe. So etwas schadet natürlich.

 

Anwalt Aktuell: Vergleicht man die österreichischen Attacken auf das Justizsystem mit denen in Amerika, könnte man meinen, dass wir auch hier noch eine „Insel der Seligen“ sind. Sie kennen die USA, haben in Ihrer Ausbildungszeit dort auch als Jurist gearbeitet. Erwarten Sie, dass der amerikanische Umgang mit dem Justizsystem auch einmal zu uns überschwappt, etwa infolge politischer Radikalisierung?

 

Georg Kodek: Die von Ihnen angesprochene Entwicklung in den USA ist sicher extrem. Wenn Sie die Radikalisierung ansprechen, sehe ich diese Gefahr sehr wohl, nicht zuletzt durch soziale Medien oder politische Randgruppen. Eine gewisse Tendenz der Steigerung, auch Übersteigerung in der Auseinandersetzung ist aus meiner Sicht schon auszumachen.

 

Anwalt Aktuell: Der VfGH hat mit seiner Entscheidung zur Auswertung von Handys und Datenträgern die Arbeit der Ermittlungsbehörden nicht leichter gemacht. Werden jetzt Umtriebe, wie sie in den letzten Jahren aufgedeckt wurden, leichter versteckt werden können?

 

Georg Kodek: Zunächst war die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs nicht auf Steigerung der Effizienz der Strafverfolgung gerichtet, sondern auf die Wahrung von Grundrechten. Mir erscheint die Entscheidung absolut einleuchtend. Ich habe nie verstanden, warum das Handy, in dem fast unser ganzes Leben sich abspielt und gespeichert wird, leichter zugänglich sein sollte als Papierunterlagen. Jetzt ist der Gesetzgeber gefordert. Und hier wird entscheidend sein, wie er in Zukunft diese Abwägung treffen wird, wo die Grenze eingezogen wird, ab welcher Schwere der Straftat künftig Handys auch berücksichtigt werden und welche verfahrensrechtlichen Kautelen – Stichwort richterliche Bewilligung – hier im Einzelnen eingezogen werden.

 

Anwalt Aktuell: Nach der Handy- und Datenträgerentscheidung gibt es noch immer Unzufriedene in Sachen Medien. Jetzt möchten diese ein Zitierverbot aus Ermittlungsakten. Können Sie dem etwas abgewinnen?

 

Georg Kodek: Ich glaube, man muss das in einem breiteren Kontext sehen. Die Diskussion ist getrieben durch eine besondere Art und Weise des Stils, wie Auseinandersetzungen in Medien derzeit geführt werden. Unter diesem Aspekt verstehe ich, wenn der Wunsch aufkommt, Vorverurteilungen einzuschränken. Wir haben die Unschuldsvermutung, die vom Staat auch geschützt werden muss. In einem größeren Gesamtkontext könnte ich mir vorstellen, dass man das Mediengesetz teilweise vom Strafrecht zum Zivilrecht verlagert. Ich glaube, da ist nicht mehr alles zeitgemäß, das kommt noch letztlich aus Zeiten der Pressepolizei und Zensur, die es glücklicherweise schon lange nicht mehr gibt. Abgesehen von schweren Fällen wie bewussten Verleumdungen könnte man jedenfalls sehr viele Bereiche ins Zivilverfahren verlagern, was auf der anderen Seite auch zu einer gewissen Entspannung beitragen könnte. 

 

Anwalt Aktuell: Die jahrelange Diskussion um einen Kostenersatz bei Freisprüchen hat neuerlich eine kleine Beruhigungspille bekommen. Die Justizministerin spricht von etwa 70 Millionen Euro an Entschädigungen pro Jahr. Sie sitzen am Ende des Instanzenzuges und können am besten beurteilen, ob das mehr ist als ein Tropfen auf den heißen Stein?

 

Georg Kodek: Die von Ihnen angesprochenen sehr lange dauernden und sehr umfangreichen Verfahren sind wahrscheinlich Fälle, wo der angedachte neue Ersatz nicht ausreichen wird, das muss man ganz klar sagen. Ich habe die letzten Jahre meines Berufslebens in der Zivil- und Handelsgerichtsbarkeit verbracht, sodass ich zu konkreten Zahlen und Ziffern nichts sagen kann. Es ist die Reform jedenfalls besser als nichts, ich verstehe aber, dass sich viele mehr wünschen. Es kann nicht sein, gerade vor dem Hintergrund der angesprochenen Unschuldsvermutung, dass die erfolgreiche Verteidigung in einem Strafverfahren zum Verlust der wirtschaftlichen Existenz führt.

 

Anwalt Aktuell: Eine ganz frische Idee in der rechtspolitischen Diskussion ist jene des Bundeskanzlers zur Absenkung der Strafmündigkeit bei Jugendlichen. Wie finden Sie das?

 

Georg Kodek: Ein Aspekt bei solchen rechtspolitischen Diskussionen, bei denen es ja nie eine richtige oder eine falsche Antwort gibt, ist, zu schauen, wie das andere Länder machen. Tatsächlich gibt es Länder, in denen die Strafmündigkeit geringer ist. Was für mich noch wichtiger wäre als die absolute Grenze der Strafmündigkeit ist die Überlegung, was wir mit den betreffenden Jugendlichen eigentlich machen. Wie würde dann ein Strafvollzug ausschauen und wie könnte sich der von jugendwohlfahrtsrechtlichen Maßnahmen, die jetzt schon möglich sind, unterscheiden? Der Schwerpunkt meiner Überlegungen würde in die inhaltliche Richtung der Ausgestaltung von Unrechtsfolgen gehen. Ob man die dann formal dem Strafrecht zuweist, dem Familienrecht oder der Jugendwohlfahrt, wäre weniger bedeutsam.

 

Anwalt Aktuell: Wie weit soll und darf die Künstliche Intelligenz Einzug in die Gerichte halten?

 

Georg Kodek: Dazu habe ich eine ganz klare Position. Auf Basis der verfassungsrechtlichen und einfachgesetzlichen Rechtslage wird die Künstliche Intelligenz nie die Entscheidung durch einen Menschen ersetzen können. Gegen den Einsatz bei Hilfstätigkeiten, etwa bei der Recherche, ist sicher nichts einzuwenden. Vielleicht auch nicht gegen den Einsatz bei der Zusammenfassung von Parteivorbringen und Akteninhalten, wenn in Zukunft ausreichend verlässliche Modelle zur Verfügung stehen, wobei auch hier aus meiner Sicht auf absehbare Zeit die Überprüfbarkeit und auch tatsächliche Überprüfung durch ein menschliches Entscheidungsorgan unerlässlich ist.

 

Herr Präsident, danke für das Gespräch.

Der Justizpalast beherbergt heute den Obersten Gerichtshof, die Generalprokuratur, das Oberlandesgericht Wien, die Oberstaatsanwaltschaft Wien sowie das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.