Das Mainstreaming von radikalem Gedankengut

EXTREM WIRD SALONFÄHIG. Seit dem vom abtretungsunwilligen Präsidenten Trump mitinszenierten „Sturm auf das Kapitol“ reibt man sich nicht nur in der ältesten Demokratie der Welt die Augen. Was kommt als Nächstes? Die österreichische Extremismus-Forscherin Julia Ebner hat sich für ihr Buch „Massenradikalisierung“ in Netzwerke von Antifeministen, Rassisten, Klimaleugnern und Verschwörungstheoretikern begeben und festgestellt, wie deren Ideen zunehmend Platz in der Gesellschaft gewinnen.

Julia Ebner arbeitet als österreichische Wissenschaftlerin am Londoner Institute for Strategic Dialogue und am Centre for the Study of Social Cohesion an der Universität Oxford. Sie berät die Vereinten Nationen, die NATO, die Weltbank sowie diverse europäische und US-amerikanische Geheimdienste: „Im Laufe der letzten zehn Jahre habe ich dabei zusehen können, wie viele obskure und zunächst unbedeutende kleine Bewegungen zu mächtigen 

Akteure einen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Wandels wurden.“ 

 

Als Beispiel nennt sie die amerikanische QAnon-Bewegung, die 2017 noch ein paar tausend Mitglieder hatte. "Heute nehmen sie Einfluss auf die Politik, verändern die kulturellen Codes und drücken unsere Sprache ihren Stempel auf. Ihre Kampagnen haben Begriffen wie 

 ‚Feminismus‘, ‚Diversity‘ und ‚Globalismus‘ im öffentlichen Diskurs einen negativen Beigeschmack verpasst, während sie selbst Begriffe wie ‚Freiheit‘, ‚Demokratie‘ und ‚Menschenrechte‘ gekapert und für ihre Zwecke umgedeutet haben.“

 

Antidemokratische Stimmung nimmt zu

Die Autorin nennt mehrere Konfliktfelder, die einerseits eine zunehmende Radikalisierung des Meinungsbildes, andererseits das Abnehmen von demokratischen Standards zeigen: Impfdebatte, Ukraine-Krieg, Black-Live-Matters, Feminismus, Genderdebatte, extremistische Geheimtreffen…„Die Ursachen für die rasante Verbreitung menschen- und demokratiefeindlicher Ideen liegen in der globalen Vertrauenskrise. Das Edelman Trust Barometer, eine jährlich weltweit durchgeführte Umfrage, zeigte 2022 deutlich den Zusammenbruch des gesellschaftlichen Vertrauens in Politik, Medien und Wissenschaft in den liberalen Demokratien. So vertraut in Deutschland, Großbritannien, Spanien und den USA weniger als die Hälfte der Bevölkerung den etablierten Institutionen ihres Landes.“ 

 

Tatort Internet

Den idealen Nährboden für die Entwicklung von Subkulturen, die sich langsam ins gesellschaftliche Bewusstsein vorarbeiten, bietet das  Internet. Julia Ebner schwindelt sich in „Incel“, eine der gruseligsten Formationen zur Bekämpfung eines positiv modernen Frauenbildes. Der Zugang ist ausschließlich Männern gestattet, die dort Leitbilder 

vorfinden, wie sie zur Neandertalerzeit gegolten haben dürften, jedoch durch ihre "Virilität" offensichtlich reichlich Applaus finden. Die Kehrseite: Herabwürdigung der Frau in Dimensionen, die sich ein durchschnittlich gebildeter europäischer Durchschnittsmann wohl nicht vorstellen kann. 

Der Verbindung von der übertriebenen Männlichkeit zum Rechtsterrorismus ergibt sich, so die Autorin, fast logisch. Sowohl der norwegische Massenmörder Andres Breivik wie auch die deutschen Attentäter von Hanau und Halle warfen Feministinnen vor, einen „Krieg 

gegen Jungen“ zu führen und für niedrige Geburtenraten der weißen Bevölkerung verantwortlich zu sein. Julia Ebner: „Die expliziten Frauenfeinde und die extreme Rechte haben eine erhebliche Schnittmenge, die sich aus weiß-männlichen Opfernarrativen, antifeministischen Verschwörungsmythen und sogar politisiertem Satanismus ergibt.“

 

Klimawandel-Leugner, Rassisten

Zur illustren Runde der gesellschaftlichen Radikalisierter zählt Julia Ebner auch die Klimawandel-Leugner, bei denen sie einen Strategiewechsel feststellt: "Ihre Netzwerke bemühen sich in jüngster Zeit enorm darum, an Jugendkulturen anzudocken und ein jüngeres Publikum zu erreichen. Die mehrheitliche alte, männliche Community hat begriffen, dass junge YouTube-Influencer rekrutiert werden müssen, wenn der eigene politische und gesellschaftliche Einfluss noch größer werden soll." Als Beispiel nennt sie die 31 jährige deutsche Influencerin Naomi Seibt, ein Mädchen mit langen, blonden Haaren und einem 

sehr exakt aufgetragenen Make-up, die bereits Hunderttausende von 

 

Zuhörer:innen weltweit erreicht. Quasi eine Anti-Greta-Thunberg. Auch die Bewegung "White Lives Matter" wind im Buch ausführlich und in ihrer beeindruckenden internationalen Dimension behandelt. - von Florida bis Kärnten. Die Vertreter dieser Subkultur bringen in 

Umlauf, die Medien, das Bildungssystem und das „Establishment“ würden „anti-weißen Rassismus“ verbreiten. Und das nächste Feindbild sei dann gar nicht weit: „Der gegen Schwarze gerichtete Rassismus der heutigen Zeit geht oft Hand in Hand mit antisemitischen Verschwörungstheorien.“

 

Keine guten Aussichten

Die Autorin Julia Ebner, die sich bereits in ihrem Buch "Radikalisierungsmaschinen“ mit manipulativen Gebilden im Internet beschäftigt hat, sieht auch in ihrem aktuellen Werk „Massenradikalisierung“ keine guten Aussichten für die weitere gesellschaftliche Entwicklung. Gelinge es nicht, das frühere Vertrauen in Politik, Medien und gesellschaftlichen Institutionen zurückzugewinnen würden wir schleichend in die Gewalt anonymer Organisationen (DAOs). "Sie besitzen das Potential, alle existierenden Regulierungsrahmen zu sprengen, da sie keine juristischen Personen sind, keine Bankkonten besitzen…und keine physischen Büros haben, die lokalisiert werden können." Angesichts einer solchen Vorschau freut man sich wieder von Herzen, 2024 mehrmals zur Wahlurne gehen zu dürfen und das Gefühl zu haben, noch einen 

kleinen Teil der Welt mitbestimmen zu können.