New Work und der anwaltliche Berufsnachwuchs

ZUKUNFTSFIT? Wie ist es um den Nachwuchs der Advokatur bestellt? Mit dieser Frage beschäftigt sich Dr. Alexander Scheuwimmer, der Präsident des Österreichischen Juristenverbands. Er schildert ein herausforderndes Berufsfeld für angehende Anwältinnen und Anwälte - von KI bis zur Verknappung von Ausbildungsstellen. Seine Empfehlung lautet: Investition in die Karriere schadet auf keinen Fall.

Rund 38 Jahre lang arbeitet man laut Agenda Austria im Schnitt in Österreich. Das ist um sieben Jahre weniger als in den 1970er Jahren - weil sich die durchschnittliche Ausbildungszeit erhöht hat. "Immer noch zu viel", befindet die Gen. Z. Auch während dieser noch verbleibenden 45% ihres Lebens fordert sie mehr Work-Life-Balance.

 

Euphorie um „Neues Arbeiten“ 

Anderorts ebbt die New Work-Welle allmählich wieder ab. Der Schweizer Arbeitgeberverband zum Beispiel forderte im April die Arbeitszeit wieder zu verlängern, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. In Österreich hingegen reicht die Euphorie um "Neues Arbeiten" gerade erst die letzten Winkel der Berufswelt. Eines der gallischen Dörfer, welche dem Trend um flache Hierarchien, Home Office und eben mehr Work-Life-Balance lange Widerstand zu leisten vermochte, waren die klassischen juristischen Berufe im Allgemeinen und die Anwaltei im Besonderen. Während andere Branchen längst mit flexiblen Arbeitszeiten und agilen Methoden um junge Arbeitskräfte buhlten, tönte es aus den Kanzleien immer noch "Ohne Fleiß kein Preis!" Mit der Aussicht auf überdurchschnittliches Einkommen und Prestige konnten es sich die Advokaten länger leisten, von ihrem Berufsnachwuchs mehr Einsatz einzufordern als Arbeitgeber in anderen Berufen. Erst in jüngster Zeit formulierten auch die ersten HR-Abteilungen ehemaliger "Arbeit adelt"-Hochburgen kleinlaut ihre Stelleninserate um. Jetzt liest man auch hier die üblichen Buzzwords. Die Recruiting-Kurzvideos auf den Social Media Kanälen werben neuerdings auch um Rechtsanwaltsanwärter:innen.

 

Konzipient:innenzahl steigt kontinuierlich 

Noch steigt die (absolute) Zahl der so genannten Konzipienten Jahr für Jahr. Circa 2.200 sind es derzeit. Aber derartig viele der frisch gebackenen Juristen werden von der insgesamt fünfjährigen post-universitären Praxisausbildung und der sehr anspruchsvollen Prüfung, welche man über sich ergehen lassen muss, um Anwalt zu werden, abgeschreckt, dass es einen immer größer werdenden Teil der Jungjuristen in andere Berufe verschlägt. Hinzu kommt, dass derzeit die Babyboomer in Scharen den Arbeitsmarkt Richtung Pension verlassen. Mit mehreren Jahren Verzögerung beginnen daher auch die derzeit circa 6.100 Anwälte, sich dem allgemeinen Trend hinzugeben und dem sehr stark ausgeprägten Wunsch der Jugend nach noch mehr Freizeit nachzugeben. Sofern das aktuelle System  nicht geändert wird, stehen jenen Österreichern, die heute zu arbeiten beginnen, 36 Jahre Pension bevor. Das ist doppelt so viel wie 1970. Damit der Kontrast zu den 38 Jahren davor (und damit der Schock bei Pensionsantritt) nicht all zu groß wird, kann man jetzt zum Beispiel auch als Associate einer Großkanzlei ein Sabbatical machen.

 

Wirklich weniger arbeiten?

Doch wie lange wird die New Work-Party noch andauern, auf welcher die Rechtsanwälte mit so großer Verspätung erschienen? Es lässt sich nicht vorhersagen, wie lange ein System aufrechterhalten werden kann, in dem die Leute immer längere theoretische Ausbildungen absolvieren, immer länger Pension beziehen … und in der kurzen Zeit dazwischen ebenfalls immer weniger arbeiten wollen. Dass die Richtung, in welche zum Beispiel die Schweiz derzeit tendiert, viel nachhaltiger ist, liegt auf der Hand. Auch der Rechnungshof attestierte in seinem im Oktober vorgelegten Bericht dem österreichischen Pensionssystem „umfassenden Handlungsbedarf“. Früher oder später wird also auch der österreichische Gesetzgeber die Augen vor dieser Realität nicht verschließen können und für ein wenig Work-Pension-Balance sorgen müssen.

 

Wettbewerbsdruck

Speziell im Bereich der rechtsberatenden Berufe könnte der aktuellen Stimmung auf dem Arbeitsmarkt aber ein noch früheres Ende bereitet werden: Zusätzlich dazu, dass eine Volkswirtschaft, in der mehr als 30% aller Erwerbstätigen nur in Teilzeit arbeiten, in einer immer noch recht globalisierten Welt nicht allzu lange wettbewerbsfähig bleiben wird (voneinander unabhängig attestieren EcoAustria, KMU-Forschung Austria und auch das WIFO dem Wirtschaftsstandort Österreich Jahr für Jahr eine sinkende Wettbewerbsfähigkeit), kommen bei den Rechtsanwälten von morgen nämlich noch zwei ganz wesentliche Faktoren hinzu: Legal Tech und mehr Wettbewerbsdruck.

 

Konzipient:innentätigkeit im Wandel

Legal Tech wird New Work bei den Konzipienten noch früher beenden als andernorts: Circa vier der fünf nach dem Uniabschluss erforderlichen Jahre an Praxis werden üblicherweise in Anwaltskanzleien absolviert. Während dieser Zeit erbringen die Rechtsanwaltsanwärter zu einem wesentlichen Teil solche juristische Arbeit, für welche noch kein vernetztes, fachübergreifendes Denken erforderlich ist. Auch betriebswirtschaftliche oder Kanzleireputations-Erwägungen müssen meist noch kaum berücksichtigt werden. Vielmehr werden Muster für Standard-Verträge ausgefüllt, Due Diligence-Reports für M&A-Transaktionen verfasst, umfangreiches Datenmaterial für Kartellverfahren aufbe- oder in Schriftsätze für streitige Verfahren eingearbeitet. Es sind dies aber genau jene Aufgaben, die schon in sehr naher Zukunft von künstlicher Intelligenz gelöst werden. Längst kann man auf den speziellen Einzelfall abgestimmte Gesellschaftsverträge, nach Eingabe von gewissen Informationen, auf Knopfdruck erstellen.

Andere Software wiederum filtert zum Beispiel aus gigantischen Massen an Verträgen in einem Datenraum alle Change-of-Change-Klauseln heraus. Das Zusammenfassen langer Texte macht oftmals ChatGPT am besten. Die Übersetzungen - auch von juristischen Texten - gelingen verlässlich mit DeepL.

 

Ersetzt KI die Konzipient:innen?

Es wird noch einige Jahre dauern, bis eine KI anhand von Informationen und Unterlagen die Chancen eines Gerichtsprozesses richtig einschätzen kann - und eine gute Empfehlung angibt, bei welcher Vergleichssumme man ein Angebot für eine außergerichtliche Einigung akzeptieren sollte. Der Algorithmus, der für jeden Rechtsabteilungsleiter den perfekten Pitch formuliert, damit man das Mandat sicher erhält, wurde noch nicht entworfen. Den Prompt, aufgrund dessen ein überzeugendes Schlussplädoyer ausgeworfen wird, gibt es noch nicht. All diese Anforderungen an einen erfolgreichen Anwalt erfüllt derzeit noch ... nur ein erfolgreicher Anwalt. Aber die Literatur und Judikatur der letzten Jahre zu einer bestimmten Thematik zusammentragen? Das macht derzeit noch der Konzipient; es könnte aber auch die KI … und zwar in einem Bruchteil der Zeit, für viel weniger Geld und auch noch um 18.30 Uhr.

 

Zahl der Ausbildungsstellen sinkt

Der Bedarf an Rechtsanwaltsanwärtern wird dementsprechend früher oder später sinken. Insbesondere Kanzleien, die standardisierte Dienstleistungen anbieten oder zumindest über standardisierte Prozesse verfügen, werden mit dem einen oder anderen Junior weniger auskommen als derzeit. Ein bisschen werden sich die Jungjuristen also schon um die solcherart kleiner werdende Zahl an Ausbildungsstellen in den Kanzleien bemühen müssen. Denn was ausgeschlossen werden kann ist, dass die für die Ausübung der Anwaltschaft erforderliche Zahl an Lehrjahren verkürzt wird. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass in naher Zukunft mit weniger Praxiszeit zur Rechtsanwaltsprüfung angetreten werden darf. Ganz abgesehen davon ist die Advokatur ein Geschäft, in dem man ohne eine gewisse Härte nicht dauerhaft besteht; Härte nicht nur gegenüber dem Prozessgegner; auch gegenüber sich selbst: Wer nie gelernt hat, mit Termin-, Umsatz- und anderem Druck umzugehen, wird nicht nur ein erfolgloser Anwalt. Er wird als Anwalt nicht dauerhaft bestehen! Es handelt sich dabei aber nicht um eine Fähigkeit, die man aus Büchern erlernen kann; es bedarf Erfahrung. Und diese Erfahrung sammelt man nun einmal ausschließlich als Konzipient.

 

Zahl der Berufsanwärter:innen steigt 

Doch nicht nur die Nachfrage wird sinken. Auch das Angebot steigt. Ausnahmslos jedes Jahre absolvieren mehr junge Menschen ein rechtswissenschaftliches Studium als im jeweiligen Vorjahr. Die Vielzahl an Fakultäten, welche zwischenzeitig Jus-Abschlüsse anbieten, sorgt dafür, dass sich dieser Trend nicht nur weiter fortsetzt, sondern sogar noch beschleunigt. Sowohl öffentliche wie auch private Universitäten bieten immer neue Rechtsstudien an; erst letztes Jahr gesellten sich zwei Rechts-Masterstudien der Uni Klagenfurt zur Angebotspalette hinzu. Ab dem kommenden Jahr entern dann auch noch die ersten Absolventen der (derzeit elf) JusHAKs den Arbeitsmarkt; diesen bleibt zwar der Weg zu den klassischen juristischen Berufen verwehrt - die eine oder andere Stelle in einem Unternehmen oder in einer Behörde, die sonst an einen Absolventen des Juridicums (oder der WU, JKU oder der SFU...) gegangen wäre, werden sie aber schon ergattern. Kurzum: Die Zahl der frisch gebackenen Juristen die um die im besten Fall stagnierende Zahl an Ausbildungsstellen rittern, steigt nicht einfach nur. Sie steigt auch immer schneller. Und dies wird unweigerlich zu einem immer stärker werdenden Wettbewerb auch bei den Berufsanwärtern für den Anwaltsberuf führen.

 

Höhere Anforderungen

Noch fühlt sich so manches Vorstellungsgespräch so an, als würde sich der Anwalt beim Konzipienten bewerben. Schon bald könnte sich das Blatt aber wenden und der Rechtsanwaltsanwärter in spe muss vielleicht seinen Mehrwert gegenüber Lexis360 oder Genjus darstellen. Mit wenig Berufserfahrung (oder wenig Arbeitswillen) wir das zunehmend schwierig werden.

 

Identifikation mit der Arbeit

Es bedarf keiner intimen Kenntnisse in Volkswirtschaftslehre, um zu erkennen, dass immer späterer Berufseintritt und immer höhere Lebenserwartung früher oder später eine Vermehrung der Lebensarbeitszeit erfordern. Die Frage ist nicht „ob“ sondern lediglich „wann“ der Druck auf das Budget so groß wird, dass entsprechende Maßnahmen ergriffen werden müssen. Und damit wird auch hierzulande das Pendel wieder zurückschwingen und Arbeit wieder eine dominierende Rolle im Leben der Leute spielen. Eine Welt in der sich Menschen wieder mit ihrer Arbeit identifizieren! Dieses derzeit exotisch anmutige Lebenskonzept wir für jene, die den Anwaltsberuf anstreben, etwas früher Realität werden, als für andere. Denn immer mehr Jungjuristen finden immer weniger Ausbildungsplätze vor, in denen sie die für die Ablegung der Rechtsanwaltsprüfung und für die Eintragung als Rechtsanwalt erforderliche Praxis sammeln könnten. Und wenn es so weit ist, werden am Ende diejenigen, die rechtzeitig ein bisschen etwas in ihre Karriere investiert haben, vielleicht doch nicht die Dummen sein.