„Wir fordern, dass die Beschuldigtenrechte in Strafverfahren verbessert werden müssen“

NEUER PRÄSIDENT. Beim Anwaltstag im burgenländischen Andau erklärte Dr. Rupert Wolff seinen vorzeitigen Rückzug als ÖRAK-Präsident. Als sein Nachfolger wurde der 58-jährige Wiener Rechtsanwalt Dr. Armenak Utudjian zum 5. Präsidenten in der 48-jährigen ÖRAK-Geschichte bestellt. Ein Gespräch über aktuelle Probleme und seine Pläne für die Anwaltschaft.

Interview: Dietmar Dworschak

 

 

ARMENAK UTUDJIAN:

Dr.iur., seit 1993 Rechtsanwalt in Wien. Langjähriges Mitglied des Ausschusses der RAK Wien. Seit September 2011 Vizepräsident des ÖRAK. 2014, 2017 und 2020 in dieser Funktion bestätigt. Seit 2021 auch Vizepräsident der Bundeskonferenz der Freien Berufe Österreichs. Am 22.9.2022 zum Präsidenten des ÖRAK gewählt.

 

 

Anwalt Aktuell: Viele bedeutende Menschen haben bereits als Kinder gewusst: Das werde ich später! Wie früh haben Sie gewusst, dass Sie Präsident des ÖRAK werden wollen?

 

Armenak Utudjian: Als ich in meiner Jugend „Petrocelli“ im Fernsehen gesehen habe, wusste ich, dass ich einmal Rechtsanwalt sein würde. Die Absicht, ÖRAK-Präsident zu werden, ist erst während meiner Vizepräsidentschaft entstanden.

 

Anwalt Aktuell: Wie hoch schätzen Sie den Rückhalt Ihres Berufsstandes für die Standesvertretung? Es gab ja schon Zeiten, da wollten führende österreichische Politiker die Kammern insgesamt abschaffen…

 

Armenak Utudjian: Ich glaube schon, dass in unserem Stand die Kammer und die Standesvertretung als sehr wichtig angesehen wird und dass man sehr großen Wert auf die eigene Selbstverwaltung legt. Der politische Wunsch nach Abschaffung der Kammern ist in den letzten Jahren durchaus zurückgegangen.

 

Anwalt Aktuell: Und was ist mit der immer wieder zu hörenden Unzufriedenheit mit dem Pensionssystem der Kammer?

 

Armenak Utudjian: Ich meine, dass es zur Tatsache, dass wir ein eigenes Pensionssystem haben, eine große Zustimmung gibt. Einer der wichtigen Punkte meiner Präsidentschaft ist übrigens der Ausbau unseres Pensionssystems. Wir streben die Sicherung und Verbesserung des Systems an und arbeiten an einem Projekt, das die Zusammenführung der Versorgungseinrichtungen der einzelnen Rechtsanwaltskammern zum Inhalt hat. Dass hie und da eine gewisse Unzufriedenheit über die Performance des Pensionssystems besteht, das finden Sie auch in anderen Pensionssystemen.

 

Anwalt Aktuell: Sehen Sie eine hohe Zustimmung auch für das eigenständige Disziplinarsystem?

 

Armenak Utudjian: Dass die, die von Disziplinarverfahren betroffen sind, das nicht so toll finden, ist ja selbstverständlich. Ich glaube aber, dass alle Beteiligten wissen, dass es besser ist, wir machen das im eigenen Bereich. Nicht unter dem Motto: „Wir tun unseren Leuten nichts an“, sondern damit im eigenen Bereich Dinge auch in die richtige Perspektive gerückt werden können und die Unabhängigkeit des Standes gewahrt bleibt. Daher ist uns die eigene Disziplinargerichtsbarkeit sehr wichtig und ich glaube auch, dass sie hohe Akzeptanz im Rechtsanwaltsstand hat.

 

Anwalt Aktuell: Ihr Vorgänger Rupert Wolff hat sich oft und sehr deutlich in der Öffentlichkeit zu Wort gemeldet. Werden Sie diese Tradition fortsetzen?

 

Armenak Utudjian: Selbstverständlich. Es ist für uns immer wichtig, wenn rechtsstaatliche Themen anstehen, dass wir unsere Stimme erheben, wie wir das auch zuletzt deutlich getan haben mit der Forderung, dass die Beschuldigtenrechte in Strafverfahren verbessert werden müssen. Es ist nicht einzusehen, dass durch Aktenleaks, wo immer sie herkommen, Beschuldigte in die Öffentlichkeit gezerrt werden, womit ihr berufliches Fortkommen erschwert oder überhaupt unmöglich gemacht wird. Hier wollen wir Verbesserungen erreichen, ebenso wie bei der Dauer von Ermittlungsverfahren, weil nicht zu akzeptieren ist, dass man jahrelang im Fokus von Ermittlungen steht, manchmal darüber gar nicht informiert wird und nie die Möglichkeit hat, zu sagen: Jetzt ist der Vorwurf endlich vom Tisch! Der dritte Punkt, der uns sehr wichtig ist, dass wir einen höheren Kostenersatz bei Freispruch verlangen. Es kann nicht sein, dass man nach oft jahrelangen Strafverfahren und Verhandlungen mit ganz geringfügigen Beträgen abgefunden wird.

 

Anwalt Aktuell: Das Thema Kostenersatz haben Sie kürzlich in die Öffentlichkeit getragen – als konkrete Forderung zur Erhöhung der Abgeltung bei Verfahrenshilfen und der anwaltlichen Tarifsätze. An wen sind diese Wünsche adressiert, wie hoch soll der Zuschlag werden und bis wann wollen Sie ein Ergebnis?

 

Armenak Utudjian: Es geht einerseits um den Anwaltstarif, der zuletzt Anfang 2016 erhöht wurde. Inzwischen ist ein Wertverlust von mehr als 21 Prozent eingetreten. Im Justizministerium, das in dieser Sache unser Ansprechpartner ist, rührt sich seit eineinhalb Jahren nichts!

Als wir im April 2021 den Antrag auf Tarifanpassung gestellt haben, machte die Inflation rund 11 Prozent aus, heute sprechen wir von 21 Prozent. Leider ist noch immer keine Erledigung in Sicht. Das ist ein Problem nicht nur für die Anwältinnen und Anwälte, die auf Basis des Rechtsanwaltstarifs arbeiten, sondern auch für Bürgerinnen und Bürger, die einen angemessenen Kostenersatz in Zivilverfahren erhalten sollten. Dieser ist momentan nicht ausreichend.

Der zweite Bereich betrifft die Verfahrenshilfeleistungen, die sogenannte Pauschalvergütung. Hier konnten wir 2020 erreichen, dass eine deutliche Anpassung vorgenommen wurde, allerdings wurde damals nicht die volle Inflationsabgeltung gewährt, sondern ist schon zu diesem Zeitpunkt ein Minus von einer Million Euro verblieben. Dieses Minus hat sich inzwischen verdoppelt. Wir fordern die Anpassung der Pauschalvergütung um 10 Prozent, somit rund zwei Millionen Euro.

 

Anwalt Aktuell: Ein bisschen Druck haben Sie bereits gemacht, indem die Kammer keine kostenlose Erstberatung mehr anbietet. Ist das schon die schärfste Waffe oder kommt da noch was?

 

Armenak Utudjian: Das war die erste Maßnahme, zu der wir leider gezwungen waren, weil wir einfach kein Verständnis in der Politik sehen. Natürlich sind noch weitere Maßnahmen denkbar. Wir hoffen aber, nicht zu weiteren Maßnahmen greifen zu müssen.

 

Anwalt Aktuell: Sie sind vorläufig für ein Jahr gewählt. Das ist keine lange Zeit für ein großes Programm. Was nehmen Sie sich vor?

 

Armenak Utudjian: Ich nehme mir vor, dass wir den eingeschlagenen Kurs, der sehr erfolgreich war, fortsetzen. Ich habe als Vizepräsident immerhin bereits mehrere Jahre an diesem Kurs mitgearbeitet. Mir geht es vor allem um die Verstärkung des Service-Angebotes für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, beispielsweise im Digitalbereich. Es geht um die Attraktivierung des Berufsbildes für die Jugend und auch für die weibliche Rechtsanwaltschaft. Und: Es geht um eine nachhaltige Absicherung unseres Pensionssystems, an der wir schon jahrelang arbeiten.

 

Anwalt Aktuell: Das Weisungsrecht der Justizministerin/des Justizministers soll nun endlich abgeschafft bzw. ersetzt werden. Welche Konstruktion favorisieren Sie hier?

 

Armenak Utudjian: Wir meinen, dass ein Kollegialorgan sinnvoll wäre, um jeden Eindruck einer Voreingenommenheit oder von Netzwerken zu vermeiden. Daher sollte es sogar mehrere Senate geben, die über solche Weisungen entscheiden, mit einer festen Geschäftsverteilung. Im Sinne der Transparenz ist es aber auch wichtig, dass eine Kontrolle seitens des Parlaments stattfinden kann. Aus unserer Sicht kann diese nur nachprüfend sein und nicht in ein laufendes Strafverfahren eingreifen.

 

Anwalt Aktuell: Bleiben wir bei der Politik. Was halten Sie vom Vorschlag der Frau Ministerin Edtstadler, Verfahren zeitlich zu begrenzen?

 

Armenak Utudjian: Das ist ein Vorschlag, den auch wir immer wieder gemacht haben. Es gibt ja jetzt schon die Befristung von Ermittlungsverfahren, allerdings führt das nur zu einer Berichtspflicht an die Oberbehörde, wobei mit einem schriftlichen Beschluss die Weiterführung der Ermittlungen angeordnet werden kann. Wir sind für eine echte Verfolgungsverjährung. Wenn, allenfalls nach einmaliger Verlängerung der Ermittlungen, noch immer kein Substrat herausgefunden werden konnte, das zu einer Anklage reicht, dann muss eingestellt werden. Der Beschuldigte soll nach einer bestimmten Zeit wissen, dass sein Verfahren beendet ist und er keine weiteren Sanktionen mehr zu befürchten hat.

 

Anwalt Aktuell: Wir haben auf der einen Seite einen international vorbildlichen elektronischen Rechtsverkehr, andererseits hört man immer wieder Beschwerden, dass verschiedene Stellen im Rechtsbereich noch weit weg vom Thema „Digitalisierung“ leben. Wie sehen Sie das?

 

Armenak Utudjian: Was den elektronischen Rechtsverkehr mit den Behörden angeht sind wir relativ weit. Noch gibt es allerdings Fälle wie diesen: Einer Vorarlberger Rechtsanwältin, die in Wien beim Bundesverwaltungsgericht Einsicht in einen Akt nehmen will, wird gesagt: Diesen Akt können Sie elektronisch nicht bekommen, Sie müssen nach Wien kommen oder einen Kollegen in Wien zum Gericht schicken, um diesen Akt zu kopieren. Daneben sehen wir im Verwaltungsverfahren eine Diskriminierung elektronischer Eingaben gegenüber Papier-Eingaben. Insbesondere bei Verwaltungsbehörden gibt es tatsächlich noch die Vorschrift, dass elektronische Eingaben während der Amtsstunden einzubringen sind. Hier wirkt eine Regelung des AVG, die jedenfalls auch angepasst gehört.

 

Anwalt Aktuell: Über 50 Prozent der Jus-Studierenden sind Frauen. Im Anwaltsberuf landen dann lediglich 24 Prozent. Woher kommt dieser „Reibungsverlust“ und wollen Sie etwas dagegen unternehmen?

 

Armenak Utudjian: Wir tun bereits seit geraumer Zeit einiges dafür, dass unser Beruf auch für Frauen attraktiv wird. Wenn man genauer hinschaut, sieht man in den letzten Jahren, dass sich beim Neueintritt in Kanzleien Frauen und Männer die Waage halten. Der Beruf ist für Frauen attraktiv, wird als solcher aber noch nicht empfunden. Wir müssen an der Attraktivierung des Berufsbildes arbeiten und unsere Bemühungen verstärken, dass Kindererziehung und Familienthemen keine Behinderungen bei der Ausübung des Berufes sind. Dies tun wir durch die jetzt in Kraft gesetzte Ruhensregelung, die es ermöglichen soll, dass man nach der Geburt eines Kindes für eine bestimmte Zeit befreit ist von Kammerbeiträgen sowie Beiträgen zu Versorgungseinrichtungen, die man zu einem späteren Zeitpunkt durch vergünstigten Nachkauf wieder ausgleichen kann.

 

Anwalt Aktuell: Immer wieder gibt es Studien zu Imagewerten von Berufsgruppen. Wo stehen die Rechtsanwälte hier momentan?

 

Armenak Utudjian: Wir sind sicher nicht top und auch nicht die Letzten auf der Liste. Ich glaube, wir werden schon sehr positiv eingeschätzt, dort, wo es darum geht, dass man loyal zu seinem Klienten, verschwiegen und unabhängig ist. Ich glaube, es wird in der Bevölkerung anerkannt, dass man einer Rechtsanwältin/einem Rechtsanwalt etwas anvertrauen kann und weiß, es ist hier in sicheren Händen. Und daher ist uns die wirtschaftliche Sicherstellung des Anwaltsstandes durch einen gerechten Rechtsanwaltstarif extrem wichtig.

 

Herr Präsident Utudjian, danke für das Gespräch.